Wo beginnt das jüdische Recht?

 
 

Noachidische Gebote       

 

Die Begründung für die noachidischen Gebote fanden die Gelehrten in einem biblischen Schriftvers. Diese kann auch als Lehrbeispiel für die talmudische Hermeneutik dienen (s. auch Hillels Hermeneutig-Regeln).

"Und es gebot JHWH, Gott, dem Menschen folgendes: Von jedem Baum des Gartens darfst du essen“ (Gen 2,16).

An diesen ersten Vers der Bibel, der eine Weisung Gottes an den Menschen formuliert, knüpfen die talmudischen Weisen die im Judentum klassisch gewordenen sieben Gebote an die universale Menschheit. Welche Tora es sei, die der Gott Israels der Völkerwelt zudenkt, soll bereits in dem ersten biblischen Gebot an den Menschen erinnert werden können. Es kann bei diesem Vers, so die rabbinische Logik, nicht einfach um Obstessen im paradiesischen Garten gehen, denn das Essen der Baumfrüchte hat Gott dem Menschen schon vorher (Gen 1,29) erlaubt. Dieser Vers in Gen 2,16 lädt also ein zu einer weiteren Deutung über seinen direkten Wortsinn hinaus (die Rabbinen klammern sich nie fundamentalistisch an den Wortlaut eines Bibelwortes, sondern suchen in ihm das für sie Lebenswichtige). Sich an das Gute und Lebenswichtige erinnern mit Hilfe der Bibel - das führen die Rabbinen im Talmud vor. Wort für Wort geht Rabbi Jochanan im Talmudtraktat sanhedrin 56b dem hebräischen Wortlaut in Gen 2,16 entlang und schleppt von irgendwoher in der Schrift ähnlich lautende Wendungen, Anklänge heran und findet mittels lockerer Assoziationen in diesem einen Vers alle sieben überlieferten noachidischen Grundsätze wieder. Wie gesagt: Nicht das Pochen auf den historischen Wortlaut, sondern das kreative Hören auf das, was mir heute gut tut - das lerne ich bei den Rabbinen.

(1.) "Und es gebot" - das deutet auf das Gebot der Rechtspflege, denn es heißt: "Dazu habe ich (Gott) ihn (Abraham) erkannt (erwählt, bestimmt), dass er seinen Kindern und seinem ganzen Hause nach ihm gebiete, Gerechtigkeit und Recht zu tun (Gen 18,19).

(2.) "JHWH“ - das weist auf das Verbot der Gotteslästerung, denn es heißt: "Wer des HERRN Namen lästert, der soll des Todes sterben" (Lev 24,16).

(3.) "Gott" - das deutet auf das Verbot des Götzendienstes, denn es heißt:  "Du sollst keine anderen Götter bzw. keinen anderen Gott haben neben mir" (Ex 20,3).

(4.) "dem Menschen" - das weist auf das Verbot des Blutvergießens, denn es heißt: "Wer das Blut des Menschen vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden" (Gen 9,6).

(5.) "folgendes" - das deutet auf das Verbot der Unzucht, denn es heißt: "Folgendes! Wenn sich ein Mann von seiner Frau scheidet und sie geht von ihm und gehört einem anderen, darf er sie auch wieder annehmen? Ist's nicht so, dass das Land unrein würde? Du aber hast mit vielen Unzucht getrieben und solltest wieder zu mir kommen? spricht der HERR." (Jer 3,1).

(6.) "Von jedem Baum des Gartens" - das spielt auf das Verbot des Raubes an. Von jedem Baum, der keinen Raub darstellt, insofern er zum Garten gehört und ausdrücklich zum Genuss freigegeben ist.

(7.) "essen, ja essen darfst du" - das weist hin auf das Verbot, ein Körperglied vom lebenden Tier zu essen. Essen darfst du, was zum Essen direkt bereit steht, also nicht ein Stück vom Lebendigen.

 

Zur weiteren Vertiefung des Themas und der Bedeutung der noachidischen Gebote für den nichtjüdischen bzw. christlichen Menschen, stellt

Klaus Müller, Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum, Berlin 2. Aufl. 1998

folgende Überlegungen an: 

Israel verknüpft mit der noachidischen Lehre fünf Bedeutungsaspekte.

Das Erste: Die noachidische Tora ist prä-sinaitische Lebensweisung, gemeint für die Flutleute, wie durchs Wasser gerettet!

Die Rabbinen sprechen von Noah und Mose in einem Atemzug. Das bedeutet: Die jüdischen Weisen stellen das für sie verbindliche Sinaigeschehen in den großen Zusammenhang von Torakundgaben Gottes seit Beginn der Schöpfung. Die Beziehung Gottes zu Israel hat für die rabbinischen Lehrer ein Prä, etwas Vorausgehendes. So wie der Israel am Sinai begegnende Gott von der Schöpfung her der Gott aller ist, so ist der Geber der Tora an Mose und sein Volk der Geber der Weisung auch an die Menschheit seit Adam und - mit dem Neubeginn nach der Flut seit Noah.

Das Zweite: Israel gibt der Völkerwelt die Summe seiner eigenen Tora weiter.

Rabbinisch wird die noachidische Tora als bleibend gültiger Maßstab und Quintessenz auch des Anspruches an Israel ausgegeben. Neben den Weltvölkern bleibt auch das mit der Sinaitora lebende Israel auf die Bezugsgröße der noachidischen Gebote verwiesen. Hier zu versagen, bedeutet wie für die Noachiden so auch für Israel, seine Bestimmung zu verfehlen:

"Wenn ihr schon die Gebote der Nachkommen Noahs nicht tut, wie könnt ihr dann sagen: Wir werden das Land erben?!" (Tosefta sota 6)

In den sieben noachidischen Geboten ergeht nicht nur eine universale Tora, sondern steckt auch das bleibend Konstitutive und Essentielle der spezifisch jüdischen Weisung. In der "Aufeinanderfolge" von Noah- und Sinaitora findet also weder eine Negation noch eine Substitution der einen Weisung durch die andere statt. Es geht auch nicht darum, dass das Judentum in einem Akt theologischer Hybris den Weltvölkern ein Gesetz verordnen wollte, dem es sich selbst nicht stellt: Im Bild gesprochen trägt Mose Noah weiterhin in sich als integrales kritisches Moment.

Der mittelalterliche Talmudgelehrte Menachem Meiri (1249-1316) sagte von den noachidischen Geboten, in ihnen sei von der Tora substantiell das meiste enthalten - der Substanz nach stecke das meiste der jüdischen Tora in den universalen Geboten an die Menschheit. Diese Erkenntnis formuliere ich summarisch so: Das noachidische Siebengebot ist sozusagen kelal gadol - eine große Regel in der Tora. Die Sieben sind für uns der Schlüssel zu aller, zur ganzen vollen Lebensweisung Gottes. Keiner möchte uns hier mit einem Mini-Ethos für Anfänger abspeisen. Der Schlüssel zum Ganzen, sagt Meiri, aber es ist eben - und das ist der entscheidende Unterschied - ein uns von Israel höchstpersönlich überreichter Schlüssel und nicht einer dieser heimlich oder frech selbstgefeilten Nachschlüssel. Die noachidischen Grundbestim­mungen finden ihre Entfaltungen in der jüdischen Tora - und diese wiederum wird an das Wesentliche ihrer Substanz erinnert durch das universale Gebot.  

Das Dritte: Die noachidische Tora ist ein Konzept theologischer Toleranz und Akzeptanz des Anderen, des Fremden.

Es haben nämlich die Rabbinen den biblischen Begriff des ger, des fremden Ansässigen weiterentwickelt und sprechen vom ger toschav, dem nichtjüdischen Mitbewohner, gerade im Unterschied zum ger im Sinne des Proselyten. Dieser Begriff des Mitbewohners wird dann mit dem Noachiden identifiziert.

Die talmudische Tradition sagt das so:

Wer heißt ein ger toschav, ein Mitbewohner?

Die Weisen sagen: Wenn er auf sich genommen hat, die sieben Gebote, die die Noachiden auf sich genommen haben, zu halten.

Der Mensch, der die sieben Gebote übernimmt, heißt ger toschav, Mitbewohner, Beisasse und ist deutlich unterschieden vom Proselyten, hebräisch: ger tsedeq, der sich mit der Konversion zum Judentum der Gesamtheit der Tora unterstellt. Insofern nun Israel zur Zeit der Rabbinen keine autonome politische Größe mehr ist, kann auch der ger toschav keine reale politische Größe mehr sein. Was die Bibel als reale politisch-geographisch-soziologische Einrichtung gedacht hatte - der Beisasse als Schutzbürger und Nachbar -, wird bei den Rabbinen nun zum theologischen Konzept: ger toschav wird zum Begriff geistig-religiöser Nachbarschaft, zum Ausdruck theologischer Akzeptanz gegenüber dem nichtjüdischen Menschen.

Die sieben noachidischen Gebote fungieren dem entsprechend nicht als real justitiabler Katalog von Forderungen und durchsetzbaren Auflagen - auch gerade nicht als so etwas wie eine Tora für Proselyten -, sondern als Ausdruck des theologisch-ethischen Horizontes, in dem sich die geistig-religiöse Nachbarschaft zum außerjüdischen Mitmenschen vollziehen kann. 

Viertens: Die weiteste Hoffnungslinie des Noachidenkonzeptes: Anteil an der kommenden Welt.

Die Rabbinen treiben die Frage der Nachbarschaft zu den nichtjüdischen Völkern über die Aspekte des politisch-geographischen Zusammenlebens und einer Koexistenz in religiöser Toleranz weiter bis zum äußersten Horizont einer Lebensgemeinschaft mit Gott: Gibt es Heil jenseits der Mauern und Grenzen der eigenen Religion?

Bereits die Tannaiten des ersten Jahrhunderts beschäftigen sich mit dieser Frage. In Tosefta sanhedrin 13,2 heißt es:

 

Rabbi Eliezer sagte: Kein Heide hat Anteil an der kommenden Welt,

denn es steht geschrieben: "Die Gottlosen werden ins Totenreich gehen, alle Heiden, die Gott vergessen" (Ps 9,18).

"Die Gottlosen werden ins Totenreich gehen" - das meint die Gottlosen Israels ("alle Heiden, die Gott vergessen" das meint die Weltvölker).

Rabbi Joschua widersprach: Wenn geschrieben stünde: "Die Gottlosen werden ins Totenreich gehen, alle Heiden" und kein Wort mehr, dann würde ich deiner Meinung beipflichten;

nun spricht aber der Vers von denen, "die Gott vergessen", und zeigt damit an, dass es Gerechte unter den Völkern gibt, und die haben Anteil an der kommenden Welt.

Die letztlich verbindliche halachische Entscheidung erfolgt im Codex des Maimonides entsprechend dem Ansatz Rabbi Joschuas:

Auch die Frommen der Weltvölker haben Anteil an der kommenden Welt.

Verbindlich formuliert Maimonides: 

Wer die sieben Gebote übernimmt und gewillt ist, sie zu tun,

der gehört zu den Frommen der Weltvölker

und hat Anteil an der kommenden Welt;

dies gilt für jenen, der sie übernimmt und tut, weil Gott in der Tora so geboten und durch unseren Lehrer Mose bekannt gemacht hat, dass die Nachkommen Noahs auf diese Gebote verpflichtet wurden.

Wenn jemand sie hingegen aufgrund der Überzeugung durch den eigenen Verstand tut,

ist er kein ger toschav und kein Frommer der Weltvölker

und keiner ihrer Weisen.

Mit diesen Worten beschreibt Maimonides die Bedingung der Möglichkeit einer endzeitlich gelingenden, wahrlich zukunftsträchtigen Wohngemeinschaft zwischen Juden und Weltvölkern im Angesicht des ewigen Gottes.

Weit über die ökonomisch-politische Ebene hinaus ist der nichtjüdische Gerechte, der mit den sieben - und nicht etwa mit den 613 - Geboten lebt, Mitbewohner in der Sphäre des Heils der kommenden Welt. 

Fünftens: Die noachidischen Menschheitsgebote sind ein Stück theologischer Ethik und nicht einfach nur das Konstrukt natürlicher Religiosität

Maimonides verknüpft das Konzept der noachidischen Gebote mit einem Gedanken, der in der jüdischen Geistesgeschichte Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen wurde: Die sieben Gebote sind - wenngleich rational durchaus einsichtig - als von Gott offenbartes Wort und nicht als Ergebnis rationaler Schlussfolgerung abseits göttlicher Offenbarung zu übernehmen.

Die Noahtora steht in theologischer Perspektive; sie hat als ein Stück theologischer Ethik letztlich mit der Beziehung zu Gott zu tun.