Studium

Protokoll zum
Seminar über Geschichte des jüdischen Rechts
Bibel und Talmud

Dr. jur. Gabriel Miller

Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Wintersemester 2000 / 2001

unter Mitarbeit von stud. jur. Christian Saur



 


I. VERANSTALTUNG

1. Einleitung

Das Seminar beschäftigt sich mit jüdischem Recht, nicht mit israelischem Recht. Israelisches Recht ist das Recht des heutigen Staates Israel, dessen Rechtssystem auf den Grundprinzipien der westlichen Demokratien beruht. Quelle des jüdischen Rechts ist die Bibel. Im Seminar wird Rechtsgeschichte, d. h. die Geschichte des jüdischen Rechts, behandeln. Das Thema ist ius humanum, also säkulares Recht, nicht ius divinum, das kanonische Recht.
Von großem Interesse sind die Besonderheiten des jüdischen Rechts, denn dabei geht es oft um Probleme, die auch für uns heutzutage von großer Bedeutung sind.
Die einzelnen Gebiete des jüdischen Rechts werden nicht alle detailliert besprochen, sondern es geht vor allem um die Grundsätze jüdischen Rechts.
Von ca. 6 Millionen Einwohnern des Staates Israel (ohne besetzte Gebiete) sind etwa 5 Millionen Juden. Über 1 Million Einwohner sind Araber. Somit hat das jüdische Recht starke kulturelle Einflüsse auf das israelisches Recht gehabt. Der jüdische Kalender gründet sich auf dem Lunisolarjahr (lunisolar: den Mond- und Sonnenlauf betreffend). Die jüdische Zeitrechnung beginnt nach Erschaffung der Welt, das soll der 7.10.3761 v. Chr. sein. (Der u. a. in Deutschland gebräuchliche Kalender ist der Gregorianische Kalender, der auf die Kalenderreform 1582 durch Papst Gregor XIII zurückgeht.)

Literaturempfehlung:
- Bibel
- Der Babylonische Talmud von Reinhold Mayer (als Taschenbuch im Handel erhältlich)
- Wörterbuch des jüdischen Rechts von Marcus Cohn (nicht im Handel erhältlich; das Buch ist in dieser Website abrufbar.)

2. Geschichtlicher Überblick

Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eng verbunden mit der Geschichte des jüdischen Rechts. Wie für die Christen ist auch für die Juden die Bibel das heilige Buch. Von sehr großer Bedeutung für das jüdische Recht sind die Fünf Bücher Mose, auch Tora oder Pentateuch genannt. Daher stammt auch die Bezeichnung mosaisches Recht, die auf Mose zurückgeht. Die jüdische Religion ist eine Gesetzesreligion, das bedeutet, durch den mit Gott geschlossenen Bund haben sich die Juden verpflichtet, bestimmte Gesetze einzuhalten. Das 1. Buch Mose, die Genesis, ist ein geschichtliches Buch. Die folgenden 4 Bücher, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium, enthalten viele gesetzliche Regelungen. Es folgt das Buch Josua, das Buch von den Richtern, das Buch Ruth, die 2 Bücher Samuel und die 2 Bücher Könige, die in erster Linie Geschichtsbücher sind.
Man sollte sich als säkularer Mensch darüber im Klaren sein, daß die meisten Erzählungen nicht historisch belegt sind. Aber darauf kommt es gar nicht an, denn die Ideen bzw. der Inhalt der Gesetze steht im Vordergrund. So beispielsweise der Gedanke von der Gleichheit aller Menschen, denn alle Menschen stammen nach jüdischer Vorstellung vom gleichen Vater, Adam, ab. Daher gibt es nach dieser Vorstellung keine höherrangigen Menschen wie beispielsweise einen Adel.
Während die biblische Geschichte mit der Erschaffung der Erde beginnt, fängt die eigentliche jüdische Geschichte mit den ersten Juden an.
17. Jh. v. Chr.: Der erste Jude ist Abraham. Er ist der Anführer des hebräischen Volkes, der Israelis (Juden) und wandert mit ihnen nach Kanaan aus. Er und seine Nachkommen Isaak und Jakob gelten als die Urväter der Juden.
Jakob und seine Familie (12 Söhne, die späteren 12 Stämme) wandern nach Ägypten; vermutlich mit der Eroberung des Landes durch die Hyxos.
Um 1550: Die Ägypter erobern das Land zurück. Die Hebräer werden unterdrückt und als Sklaven ausgebeutet.
13. Jh.: Unter der Führung Mose kommt es zum Auszug der Hebräer aus Ägypten, dem sogenannten Exodus. Gott hat sich Mose am Berg Sinai offenbart. Ein Bund zwischen dem Gott Jahwe als alleinigem Herrn und den auserwählten israelitischen Stämmen wird geschlossen. Mose wird als Verfasser der Tora angesehen. Er ist mit seinen Gefolgsleuten nach langer Wanderung durch die Wüste Sinai in das damalige Kanaan gelangt, die Region des heutigen Staates Israel.

Um 1200: Es kommt es zur Bildung des Zwölfstämmeverbandes auf der Grundlage der gemeinsamen Herkunft und Gottesverehrung. Unter dem Eindruck ständiger Bedrohung durch die Philister und Ammoniter geht die Staatsform Israels in ein Königtum über.
Um 1010: Saul wird nach erfolgreichem Kampf gegen die Ammoniter zum König proklamiert.
Um 1000-966: Unter König David entsteht nach erfolgreichen Kriegen gegen die Philister, Moabiter, Ammoniter und Edomiter ein israelischer Großstaat.
Um 966-926: Unter König Salomo erlebt das Reich Israel seinen Höhepunkt. Jerusalem wird ausgebaut, so z. B. der Palast und der Tempel. Der Nachwelt gilt Salomo als Psalmendichter und Weisheitslehrer. Dazu folgende Geschichte: 2 Frauen stritten sich darum, wer die wahre Mutter eines Kindes sei. Salomo schlug vor, man solle das Kind in zwei Hälften schneiden, damit beide Frauen je eine Hälfte des Kindes bekommen. Eine der Frauen war mit dem Vorschlag einverstanden, die andere, die wahre Mutter, protestierte und war bereit, auf das Kind zu verzichten, damit es am Leben bleiben konnte. Auf diese Art konnte König Salomo herausfinden, wer das Kind wirklich liebte und die wahre Mutter war.
926: Das Reich zerfällt in ein Südreich, Juda mit der Hauptstadt Jerusalem, und ein Nordreich, Israel mit der Hauptstadt Sichem, dann Thirza und Pnuel, später Samaria. Das Südreich wird von Rehabeam beherrscht, das Nordreich von Jerobeam. In den folgenden Jahrhunderten stehen diese beiden Staaten unter der wechselnden Herrschaft der sie umgebenden Weltmächte Ägypten, Assyrien, Babylonien und Persien. Israel wird 722 assyrische Provinz und geht als eigenständiger Staat unter. Später wird das frühere Nordreich durch Josia, König von Juda, erobert. Um 628 wird das Tora-Buch (Deuteronomium) gefunden. Die Babylonier erobern und zerstören Jerusalem 586. Die sich gegen die babylonische Unterdrückung auflehnende Bevölkerung wird teilweise nach Babylonien deportiert (‘Babylonische Gefangenschaft’), teilweise fliehen Juden nach Ägypten. Damit kommt es zur Zerstreuung der Juden in der Welt, der sogenannten Diaspora.
Um 550: Das Babylonische Reich wird durch die Perser eingenommen. Damit kehrt ein Teil der Deportierten zurück.
Um 450: Es erfolgt die Kodifizierung, also die systematische Erfassung aller Normen, des jüdischen Rechts. Das durch Esra eingeführtes Gesetz (Pentateuch, Tora) begründet die Gesetzesreligion, d. h. das Gesetz ist eine Gabe Gottes. Somit wird erneut ein Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk geschlossen.
332: Judäa wird von Alexander dem Großen unterworfen. Damit beginnt auch die Auseinandersetzung der jüdischen Kultur mit dem Hellenismus.
 


II.  VERANSTALTUNG

1. Geltung des Mosaischen Rechts heutzutage

1. Beispiel: Ein Mann wird wegen Kindesmißhandlung angeklagt. Vor einem modernen israelischen Gericht führt er als Rechtfertigung ein Zitat aus dem Alten Testament (aus dem Weisheitsbuch Sprüche: "Wer mit seinen Stock sparsam umgeht, der hasst seinen Sohn") an. Danach soll man sein Kind streng, also auch mit körperlicher Züchtigung erziehen, wenn man es liebt. Die Vorsitzende Richterin hat dieses Argument zurückgewiesen und sich gleichzeitig mit diesem gängigen Vorurteil sachlich auseinandergesetzt.

2. Beispiel: Ein Palästinenser hat einen Selbstmordanschlag verübt, indem er sich in die Luft gesprengt hat und damit auch mehrere Israeli tötete. Da man dem Attentäter selbst nicht mehr den Prozeß machen konnte, sollte seine Wohnung zerstört werden. Dies ist in Israel gängige Praxis. Gerechtfertigt wird dieses Vorgehen mit Vergeltung einerseits und Abschreckung bzw. Prävention andererseits. Potentielle Selbstmordattentäter sollen durch die verheerenden Folgen für ihre Familien davon abgeschreckt werden, solche Bombenanschläge zu begehen. Einer der Richter des Hohen Gerichtshofes sprach sich gegen die Zerstörung der Wohnung aus. Er berief sich auf eine Bestimmung aus dem mosaischen Recht, wonach Kollektivstrafe und Sippenhaft unzulässig sind. Gemäß 5. Mose, 24, 16 darf für ein Verbrechen nur der Täter selbst und keine anderes Familienmitglied bestraft werden. Eine andere Entscheidung könne der Richter mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, denn kein Mensch dürfe für die Tat eines anderen bestraft werden.

Diese beiden Beispiele veranschaulichen, daß das mosaische Recht (jüdisches Recht) auch heutzutage das Denken und Handeln der Menschen, natürlich vor allem in Israel, stark beeinflußt. Rechtliche Geltung kommt dem mosaischen Recht nur sehr begrenzt im Bereich des Familienrechts zu. Doch auf Gesetz und Ethik hat das mosaische Recht erheblichen Einfluß.

Nicht nur das mosaische Recht, sondern auch die jüdische Sprache, das Hebräisch, ist bis heute erhalten geblieben. Hebräisch war zwar viele Jahrhunderte keine Umgangssprache mehr, als Gebetsprache hat es jedoch immer weitergelebt. Bis ca. zur Epoche der Aufklärung im 18. Jh. hat das jüdische Recht seine rechtliche Geltung behaupten können.

2. Mosaisches Recht und Kodex Hammurabi

Das Mosaische Recht umfaßt neben Gesetzen auch viele weitere Regelungen. So z. B. Reinheitsgebote oder Regelungen bezüglich der Feiertage und des Tempelkults. Alle diese Regelungen bzw. Gebote haben den gleichen Stellenwert, sie gelten als das Wort bzw. die Offenbarung Gottes. Die gesetzlichen Regelungen sind über die gesamte Tora verstreut. Die Aufzeichnung des Mosaischen Rechts begann frühestens um 1000 v. Chr.

1901/1902 wurde von französischen Archäologen eine Stele (griechisch ‘Säule’) aus Diorit gefunden, auf der ungefähr 280 §§ eingemeißelt waren. Rechtsgrundsatz dieser Gesetzte privaten und öffentlichen Rechts war die Talion. Darunter versteht man den Grundsatz der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem bzw. Vergeltung durch Bestrafung an dem Schaden stiftenden Körperteil. Diese Gesetzessammlung wird als Codex Hammurabi bezeichnet, da sie auf König Hammurabi zurückgeht. Er regierte von 1793 bis 1750 über das Reich Babylonien. Die Gesetzessammlung soll Hammurabi zum Ende seiner Regierungszeit erlassen haben, also einige Jahre vor 1750. Oberstes Ziel des Codex Hammurabi, der keineswegs das gesamte babylonische Recht der damaligen Zeit umfaßte, war die soziale Gerechtigkeit. Zudem sollte auch der einfache Mann zu seinem Recht kommen können.

3.  Entwicklung des jüdischen Rechts um die Zeit Esra

Die Aufgabe, sich mit den Gesetzen zu beschäftigen, lag bei einem Teil der Oberschicht, den Priestern, die oft zugleich Richter waren. Eigentlich waren dies sehr angesehene und geachtete Leute. Doch es gab auch Priester, die es mit dem Recht nicht so genau nahmen und mehr auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren. So beschreibt eine Geschichte aus dem Alten Testament (1. Buch Samuel, Kapitel 2, 11 - 17) die Mißstände am Heiligtum des Herrn. Die Söhne Elis mißbrauchen ihr Priesteramt hemmungslos, um sich selbst zu bereichern. Die Macht, die sie durch ihre Stellung inne haben, hat sie korrumpiert. Sie kümmeren sich nicht mehr um das Recht, sie stellen sich darüber. Wissen und Macht können eben manchmal eine zu große Verlockung sein.

539 wird nach der Eroberung des neubabylonischen Reiches durch Kyros II Palästina zum Persischen Weltreich. 515 ist der Tempel wiederhergestellt und ein Teil der Deportierten kehrt aus der Babylonischen Gefangenschaft zurück. Unter Nehemia und Esra setzt eine politische und religiöse Neuordnung ein. So beginnt der Bau von Stadtmauern, und es wird ein Eheverbot zwischen Judäern und Angehörigen fremder Völker erlassen. Jerusalem wird kultisches und politisches Zentrum der Juden. Das gesamte Leben wird durch das Gesetz geregelt, weshalb die Kenntnis, Auslegung und Erklärung des Pentateuch durch die Schriftgelehrten notwendig wird. Diese kommen vor allem aus dem einfachen Volk und nicht aus einem privilegierten Priesterstand. Sie beschäftigen sich mit der Auslegung des etwa 1000 Jahre alten Rechts in den Synagogen (Lehrhäusern). Dort trifft sich jeden Samstag (Sabbat) das Volk, um in der Tora zu lesen und diese zu interpretieren. Damit beginnt sich das jüdische Recht um 450 unter Esra zu entfalten, die Grundlage für ein religiös und politisch aktives Judentum ist geschaffen.

Zu dieser Zeit ist die herrschende Sprache Aramäisch, wie sie später auch Jesu spricht. Auch Griechisch wird mit den Eroberungen Alexanders eine der am weitesten verbreitete Sprache. Die Tora ist jedoch auf Hebräisch geschrieben. Dies macht zusätzlich die Erklärung und Auslegung durch Schriftgelehrte erforderlich. Im Laufe der Zeit entwickelt sich auch ein mündliches, nicht kodifiziertes Recht. Es ist aber strengstens verboten, eine schriftliche Interpretation vorzunehmen oder den Wortlaut der Tora selbst zu ändern, denn es handelt sich schließlich um das Wort Gottes. Das sollte nicht durch andere Schriften seine Einzigartigkeit einbüßen.

Wie sehr man darauf achtet, daß Gottes Offenbarung im Laufe der Zeit nicht geändert wird, zeigt folgendes Beispiel. ‘Sofrim’ ist eine andere Bezeichnung für Schriftgelehrte. Übersetzt bedeutet sie Zähler. Früher geschah die Vervielfältigung eines Schriftstücks per Hand durch Abschreiben. Damit nichts verloren ging oder sonst geändert wurde, zählten die Schriftgelehrten jeden einzelnen Buchstaben nach!
 


III. VERANSTALTUNG

1. Entstehung des modernen Staates Israel

Auf Fragen von Seminarteilnehmern wird auf die neue Geschichte Israels eingegangen:

Im 19. Jahrhundert lebten vorwiegend Araber in Palästina. Seit dem Ende des 19. Jhs kam es zu einer verstärkten Einwanderung von Juden in das Gebiet Palästina, für die Juden das ‘Heilige Land’. Bis 1917/1918 war Palästina unter türkischer Herrschaft. Britische Streitkräfte konnten mit der Unterstützung der Araber erfolgreich gegen den türkisch-deutschen Widerstand kämpfen und Palästina erobern. Um 1917 betrug die Zahl der Juden in Palästina nur etwa 56.000. Unter der britischen Mandatsverwaltung (1920-1948) verstärkte sich die jüdischen Einwanderung, insbesondere ab 1933. In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Spannungen zischen Juden und der arabischen Bevölkerung, den Palästinensern, die zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen und Terror führten. Durch eine Teilung des Landes in ein jüdisches und ein arabisches Gebiet hoffte die UNO 1947 Frieden zu stiften.

1948 gaben die Briten ihr Mandat auf und zogen sich aus Palästina zurück. Am 14.5.1948 wurde von dem jüdischen Nationalrat unter Vorsitz von Ben Gurion der unabhängige Staat Israel ausgerufen. Zu dieser Zeit setzte sich die Bevölkerung (Israels, nicht Palästinas) aus rund 650.000 Juden und 125.000 Arabern und Drusen zusammen. Es kommt zum offenen Kampf zwischen den arabischen Nachbarstaaten und Israel. Unterstützung mit Waffen und Munition erfuhren die Israelis damals vor allem von der Sowjetunion. Stalin lieferte kriegswichtige Güter über die Tschechoslowakei an Israel. Seine Absicht war es, einen verbündeten sozialistischen Staat in der Nahostregion zu haben, denn die Sozialistenpartei war zu dieser Zeit in Israel die stärkste Kraft. Ironischerweise ist Israel zu einem sozialdemokratischen Staat und zur ‘Speerspitze des Westens’, d. h. den USA, geworden. Später bekamen die Israelis auch materielle und finanzielle Hilfe von Deutschland.

Der israelische Unabhängigkeitskrieg dauerte bis zum endgültigen Waffenstillstandsabkommen 1949, das durch die UN vermittelt wurde. Jerusalem wurde geteilt, das westliche Jordanland fiel an Jordanien, der Gaza-Streifen an Ägypten. Insgesamt hatte sich das Staatsgebiet Israels aufgrund militärischer Überlegenheit noch vergrößert. Es vollzog sich der Aufbau des Staates Israel mit seinen Institutionen.

1956 war Israel in den Suezkanalkonflikt verwickelt und hatte zeitweilig die Sinai-Halbinsel und den Gaza-Streifen besetzt. 1967 besetzte Israel im israelisch-arabischen Krieg (Sechs-Tage-Krieg) gegen Ägypten, Jordanien und Syrien erneut diese Gebiete sowie das Westjordanland, die Golan-Höhen und den jordanischen Teil Jerusalems. 1973 brach der Jom-Kippur-Krieg aus, in dem die arabischen Staaten versuchten, die besetzten Gebiete zurückzuerobern. 1974 kam es zum Entflechtungsabkommen mit Ägypten und Syrien sowie zu von UN-Truppen besetzten Pufferzonen. Als erstes Land schloß Ägypten mit Israel 1979 einen Friedensvertrag und es kam zur Räumung des Sinai. 1982 zerschlug Israel im Libanon-Krieg Kampfverbände der PLO im Südlibanon.

Im Oslo-Abkommen wurde u. a. den Palästinensern der Gaza-Streifen abgetreten und es erfolgte die Einteilung in A, B und C-Zonen. Die A-Zonen stehen unter vollständiger Selbstverwaltung durch die Palästinenser, die B-Zonen stehen unter palästinensischer Zivilverwaltung und israelischer Militärverwaltung und die C-Zonen unter völliger Kontrolle durch die Israelis.

2. Vergleich zwischen Tora und Kodex Hammurabi

Der Kodex Hammurabi wurde in der Stadt Ur (sumerisch Urim) gefunden. Es handelt sich um eine alte Stadt aus Südbabylonien, dem heutigen Irak. Von dieser Stadt, die nordwestlich von Basra liegt, sind nur noch Ruinen übrig. Die Stadt Ur gilt auch als die Heimatstadt Abrahams. Von dort sollen die Vorfahren der Juden stammen.
Vergleicht man bestimmte Passagen aus der Tora mit entsprechenden Paragraphen aus dem Kodex Hammurabi, so kann man zahlreiche Übereinstimmungen feststellen.

Beispiele:
Kodex Hammurabi: § 124
Wenn ein Mann einem anderen Silber, Gold oder sonst etwas vor Zeugen zum Aufbe-wahren übergeben hat und dieser es ihm ableugnet, wird dieser Mann, sobald er vor Gericht überführt ist, das Doppelte zahlen.
Tora: Exod. 22, 6
Wenn ein Mann einem anderen Silber oder Kostbarkeiten zum Aufbewahren übergeben hat, und dies aus dem Hause des Mannes gestohlen wird, wird der Dieb, wenn er gefunden wird, den doppelten Betrag entrichten.

Kodex Hammurabi: § 127
Warnung, eine Geweihte oder eine verhei-ratete Frau zu verdächtigen.
Tora: Exod. 22, 15
Wenn ein Mann eine Jungfrau, die noch unverlobt ist, verführt und ihr beiwohnt, soll er für sie den Kaufpreis zahlen und sie zum Weibe nehmen.

Kodex Hammurabi: § 129
Wenn die Ehefrau eines Mannes mit einem anderen Manne im Beischlafe ertappt wird, wirft man sie beide, nachdem man sie gebunden hat, ins Wasser.
Tora: Deuter. 22, 22
Wenn ein Mann ertappt wird, wie er mit einer verheirateten Frau schläft, sollen alle beide sterben, der Mann, welcher der Frau beiwohnte und die Frau.

Abgesehen von der starken inhaltlichen Übereinstimmung ist auch die Reihenfolge der Gesetze oftmals gleich.
Der Grundsatz der Talion findet sich sowohl im Kodex Hammurabi als auch im Mosaischen Recht, wenngleich er im Kodex Hammurabi etwas stärker ausgeprägt ist.
Während jedoch die dem Kodex Hammurabi zugrunde liegende Gesellschaftsform ein Klassensystem mit zahlreichen Ständen (Priester, Adel etc.) ist, kennt das Mosaische Recht nur Freie und Sklaven. Insgesamt erscheint das Mosaische Recht fortschrittlicher und humaner, insbesondere hinsichtlich der Bestimmungen bezüglich der Sklaven. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß es nach jüdischer Vorstellung für einen Juden Sünde sei, als Sklave zu leben, denn alle Juden "sind Sklaven Gottes, und nicht Sklaven von Sklaven".
Im hebräischen Recht herrschte ein Nebeneinander von Privatstrafrecht und Strafrecht. Privatstrafrecht mit Bußen ist die Folge von Diebstahl, verschuldetem Tierschaden und einfacher Körperverletzung. Meistens ist das Doppelte des gestohlenen Wertes zu ersetzen, bei manchen Delikten auch das Vier- bis Fünffache. Das Strafrecht ist allein auf die Bestrafung des Täters als Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs gerichtet. Strafgewalt ist die hebräische Rechtsgemeinde. Mit dem Tod bestraft wird Totschlag, unrechtmäßige Versklavung, Hexerei, Sodomie und Gotteslästerung.

Zur Zeit Esra um ca. 450 v. Chr., vielleicht auch schon etwas früher, setzte die Theologisierung des jüdischen Rechts ein, d. h. das Gesetz wird als Gesetz Gottes ausgegeben. Für die Juden war vor allem die Vorstellung von der ‘Strafe Gottes’ abschreckend. Hauptkriterium des Mosaischen Rechts ist aber das Wohl des Menschen.

Erst durch die Theologisierung des Rechts beginnt sich das jüdische Recht stärker von den Gesetzen Hammurabis zu unterscheiden.
Dies alles deutet darauf hin, daß sowohl der Kodex Hammurabi als auch das Mosaische Recht von einem ‘Urgesetz’, einem Ur-Semitischen Recht, abstammen müssen.

3. Autoritäre und Humanistische Ethik

Im Zuge der Theologisierung gewinnen die zahlreichen in der Tora erwähnten ethischen Normen einen gesetzlichen Stellenwert. Die ethischen und die gesetzlichen Normen sind oft miteinander vermengt, wie auch z.B. in den zehn Geboten. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage nach der Unterscheidung zwischen autoritärer und humanistischer Ethik. Diese geht auf Erich Fromm zurück. Er war ein amerikanischer Psychologe deutscher Herkunft und lebte von 1900 bis 1980.
Nach der autoritären Ethik entscheidet eine Autorität, was gut und was böse ist. Kennzeichnend für diese Auffassung ist, das die Menschen nicht in der Lage sind, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Für den Despoten ist gut, was ihm nützt.
Die humanistische Ethik geht davon aus, daß die Menschen sehr wohl zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Richtlinie ist das Wohl des Menschen. Die humanistische Ethik leitet ihre sittlichen Forderungen nicht von einer Autorität ab, sondern begründet sie rein menschlich (humanistisch).
Ist die mosaische Ethik nun eine "schlechte" Ethik, weil sie von einer Autorität, von Gott, verkündet wurde? Die gleiche Frage gilt für das Christentum, das seine Ethik auf den Glauben gründet.
Für die Christen (so die Meinung eines Studenten) ist die Ethik ohne Glaube, also ohne Gott, nicht möglich, denn Gott ist die Autorität. Glaubt man nicht an Gott und seine Offenbarung, so erscheinen die Verhaltensnormen als unbegründet.

4. Exegese

Im Judentum hat sich eine spezielle Art der Erzählung entwickelt, die sogenannte Exegese. Unter der Exegese ist die Auslegung einer nicht aus sich selbst verständlichen Schrift mittels verschiedener Methoden zu verstehen. So haben die Schriftgelehrten versucht, dem einfachen Volk das Wort Gottes näher zu bringen, indem sie sehr anschauliche Geschichten erzählten. Beispiel für eine Exegese ist die Geschichte, daß Gott nur zwei Menschen schuf. Damit kann man die Idee der Gleichheit aller Menschen einfach und bildhaft veranschaulichen.
Der geschichtliche Ursprung der Exegese geht auf das Beispiel Esras zurück, nachzulesen im biblischen Buch Nehemia, Kapitel 8, Vers 1-12. Dort wird erzählt, wie Esra das Volk in das Gesetz Gottes einführt, indem er aus der Tora liest und dann erläutert und erklärt. Später hat sich die Exegese auch im Islam und im Christentum etabliert.
Eine spezielle Art der Exegese ist der Midrasch. Dieser ist eine Auslegung des Alten Testaments seit nachexilianischer Zeit. Man versucht herauszufinden, was hinter dem Wortlaut der Tora steht, was Hintergrund der göttlichen Weisung ist. Der Midrasch unterteilt sich in Halacha und Agada. Die Halacha ist der gesetzliche Teil der mündlichen Überlieferung und umfaßt Religionsgesetze für alle Bereiche. Die Tora und das Gewohnheitsrecht werden in kasuistischer Weise gedeutet. Im Gegensatz dazu steht die religiös erbauliche Auslegung, die Agada. Sie ist der poetisch-folkloristische Teil der mündlichen Überlieferung und enthält zahlreiche Legenden, Wunder- und Zaubergeschichten, Sprichwörter und Anstandsregeln. Von vielen Schriftgelehrten wird die Agada nicht als rechtliche Interprätation anerkannt.
Ursprünglich sollte die Halacha nur mündlich vom Lehrer zum Schüler weitergegeben werden. Diese schon weiter oben erörterte strikte Trennung von mündlicher und schriftlicher Lehre konnte spätestens im 2. Jahrhundert n. Chr. nicht mehr aufrecht erhalten werden. Im Laufe der Zeit hatte sich eine Vielzahl von rechtlichen Entscheidungen und Auslegungen angesammelt. Diese drohten wenigstens teilweise in Vergessenheit zu geraten, wenn sie nur mündlich weitergeben werden dürfen. Außerdem war ohne eine schriftliche Rechtssammlung die Verständigung weit entfernt lebender Rechtsgelehrter kaum möglich.


IV. VERANSTALTUNG

1.  Mosaisches Recht - die Grundnorm

Agada-Geschichten sind manchmal etwas eigenartig und weit hergeholt. Auf eine humoristische Art und Weise wird das eigentliche Anliegen geschickt nähergebracht. So beispielsweise bei dieser Geschichte:

Als Moses in den Himmel stieg, sah er den lieben Gott dasitzen und Kränze für die Buchstaben (Schriftverzierungen) winden. Da sprach er: Herr der Welt, warum hältst du dich damit auf? Er erwiderte: es ist ein Mann, der nach vielen Generationen sein wird, namens Akiwa ben Josef. Er wird dereinst über jedes Häkchen Haufen über Haufen von Lehren vortragen. Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, zeig ihn mir. Er erwiderte: Wende dich um. Da wandte sich Mose um und setzte sich im Lehrhaus des Rabbi Akiwa hinter der letzten Reihe. Er verstand die Unterhaltung nicht und sein Geist war durcheinander. Als Rabbi Akiwa zur Begründung der von ihm vorgetragenen Sache gelangte, fragten ihn seine Schüler, woher er dies wisse; er erwiderte: dies sei eine Moses am Sinai überlieferte Lehre. Da beruhigte sich Moses. (b Mena. 29b)

Rabbi Akiwa suchte hinter jedem Wort einen tieferen Sinn und entwickelte unzählige Interpretationen zur Tora. Jedenfalls hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine mündliche Lehre entwickelt, die sich wie auch die schriftliche Lehre auf Mose beruft. Die kleine Geschichte zeigt, daß letztlich alle Lehren auf Mose zurückzuführen sind. Für die Geltungskraft einer Lehre ist entscheidend, auf was sie sich beruft, d. h. bis zu welchem Punkt die Überlieferungskette reicht. Alles geht auf eine einzige Norm zurück, die Grundnorm, die vorausgesetzt wird und nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Für die Juden ist das die Offenbarung, das mosaische Gesetz. Ein weiteres Beispiel für eine Überlieferungskette findet sich im Talmud, Mischna Awot I, 1ff. (Wir lesen diesen Abschnitt und erörtern ihn.)
Auch für uns heutzutage kommt nach Kelsen das Recht ohne die Grundnorm-Theorie nicht aus. Jede gesetzliche Norm in unserem Rechtssystem wird letzten Endes von der Grundnorm abgeleitet. So beruft sich z. B. im deutschen Recht die kommunale Verordnung auf das Landesrecht und dieses auf das Bundesrecht, das Bundesrecht auf das Grundgesetz.
An der Erzählung Joma VII, i, ii, (die gemeinsam im Seminar gelesen wurde) wo es heißt, dass Alexander der Große sich vor dem jüdischen Hohepriester Simon geneigt haben soll, merkt man, dass Agada-Geschichten manchmal nicht exakt mit geschichtlich belegten Daten übereinstimmen. So ist es unmöglich, daß Simon der Gerechte mit Gefolgsleuten in einer Nacht von Jerusalem bis zur Küste zu Alexander gewandert ist. Ausserdem gab es zu dieser Zeit noch diese in der Geschichte beschriebenen Rivalitäten zwischen Juden und Samaritanern nicht.

2. Die Schule Hillel

Nach dem Ende der Monarchie war Israel sehr lange eine persische Provinz, erhielt aber eine gewisse Selbständigkeit und wurde eine Theokratie. An der Spitze standen Hohepriester und der Hohe Rat, das sogenannte Synhedrion. Dies war ein Gremium von 71 Mitgliedern und die oberste jüdische Verwaltungs-, Gerichts- und Gesetzgebungsbehörde. Das Synhedrion existierte von etwa 200 v. Chr. bis 400 n. Chr. und hatte in einer gewissen Zeitperiode (wie in der Mischna Awot gelesen) eine Doppelspitze, d. h. 2 Vorsitzende. So wurde das Synhedrion von dem letzten "Paar" Hillel und Schammai geleitet. Beide waren Häupter von nach ihnen benannten Gelehrtenschulen. In strittigen Fragen entschied die Schule Hillel weniger streng als die rivalisierende Schule Schammai. Letztlich konnte sich die Schule Hillel wegen ihrer milderen und menschenfreundlicheren Einstellung durchsetzen. Nach dem Tod Schammais (kurz vor Beginn der christlichen Zeitrechnung) stand Hillel allein an der Spitze des Synhedrions. Seit Hillels Führung gab es nur noch einen Vorsitzenden (seine Nachkommen) und erst um diese Zeit hat sich die Bezeichnung Rabbi etabliert.
 


V. VERANSTALTUNG

Hermeneutik

Die Hermeneutik beschäftigt sich mit der Frage, ob es eine Methode gibt, sinnhafte Symbole, sprachlicher oder nichtsprachlicher Art, richtig zu deuten. Die Lehre über das Verstehen oder die Deutung von Rechtsnormen, die gewöhnlich sprachlich formuliert sind, bezeichnet man als juristische Hermeneutik. Im Talmud werden neben den 7 Regeln des Hillel auch noch die 13 Regeln des Rabbi Jischmael und die 32 Regeln des Rabbi Elasar behandelt.
Insbesondere die Auslegungsregeln des Hillel sind auch für uns heutzutage interessant, denn sie ähneln stark den deutschen Auslegungsregeln. Zudem geben die Regeln des Hillel Einblick in die Einzelheiten und Besonderheiten des jüdischen Rechts.

Die Hermeneutik-Regeln des Hillel:

1. Das Leichte und das Schwere, a minori ad maius. Die Söhne Jakobs bringen das ihnen heimlich zugesteckte Geld zurück. Um wieviel mehr würden sie keinen Diebstahl begehen. (Sofistik: Wenn mir die Tochter meiner Frau - mit der ich schlafen darf - verboten ist, umsomehr die Tochter einer fremden Frau, mit der ich nicht schlafen darf.)

2. Gleiche Verordnung, gleiche Satzung, Analogieschluss. "Ein Mann von 60 Jahren und mehr" (3. M. 27, 3-7). Der Ausdruck Jahr wird immer gleich ausgelegt (Ar IV, 4).

3. Gründung einer Familie, Verallgemeinerung eines besonderen Gesetzes. Es sind immer 2 oder 3 Zeugen verlangt (5. M. 17, 6). S. auch "Pflüge nicht mit Ochs und Esel zusammen" (5. M. 22, 10), meint alle ungleichen Tiere.

4. Verallgemeinerung die auf zwei Bibelstellen gründet. Für jeden unersetzlichen Schaden gehört dem Sklaven die Freiheit (2. M. 21, 26 und 27).

5. Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere und umgekehrt. Verbot Fleisch mit Milch zu kochen, essen und allg. Nutznießen aus 3 Stellen (2. M. 23, 19; 34, 26; 5. M. 14, 21). "Von den Haustieren, vom Rind und vom Kleinvieh" (3. M. 1,2). "Verwahrung von Esel, Rind und Schaf, oder sonst ein Haustier" (2. M. 22,9). S. auch Ehen mit Verwandten 3. M. 18, 6.

6. Schluss von einer anderen Bibelstelle. Der Erstgenannte ist nicht vorrangig. 2. M. 3, 6 verglichen mit 3. M. 26, 42.

7. Schluss aus dem Kontext. "Du sollst nicht stehlen" bedeutet aus dem Kontext Menschenraub (2. M. 20, 15), hingegen Gelddiebstahl in 3. M. 19, 11.

Bemerkungen zu einzelnen Regeln des Hillel:

Zu Regel 1: Die erste Regel ist eine typische Wenn-Dann-Aussage. Beispiel: A findet auf der Straße 5000,-- DM. Als anständiger Mensch zeigt er den Fund an und deponiert das Geld auf der Bank, damit es der eigentliche Eigentümer wiedererlangen kann. Am nächsten Tag werden 5000,-- DM in derselben Bankfiliale gestohlen. A kommt als Täter nicht in Frage, denn wenn jemand schon 5000,-- DM findet und freiwillig seinem ursprünglichen Besitzer zurückgeben will, dann wird er erst recht nicht 5000,-- DM vorsätzlich stehlen.

Einen Versuch, diese Regel ad absurdum zu führen, hat ein Gelehrter - wie der Talmud berichtet - unternommen. Seine Argumentation war: Wenn mir die Tochter meiner Frau - mit der ich schlafen darf - verboten ist, dann soll mir umso mehr die Tochter einer fremden Frau - mit der ich nicht schlafen darf - verboten sein. Dieses Beispiel enthält einen entscheidenden logischen Fehler. (Die Tochter meiner Frau ist mir verboten, weil sie meine eigene Tochter ist, d. h. eben weil sie die Tochter meiner Frau ist, die Tochter einer fremden Frau ist mir nicht deshalb verboten, weil mir ihre Mutter verboten ist, sondern weil mir fremde Frauen generell verboten sind.) Der Talmud berichtet gleichzeitig, dass man den Gelehrten, der diese Frage gestellt hatte, der Lehranstalt verwiesen hat. Es scheint, dass in jeder Kultur die Gelehrsamkeit eine Neigung zu sophistischem Denken entwickelt. Dies unter den Talmud-Gelehrten wie auch in der alten griechischen Kultur.

Als Sophisten bezeichnet man die im 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen umherwandernden Lehrer der Rhetorik, die zugleich als praktisch-ethische und politische Erzieher auftraten. Heutzutage haben die Sophisten ein schlechtes Image, was vor allem an der Kritik von Aristophanes, Sokrates und Platon liegt. Ein Sophist gilt als Rechtsverdreher, dessen Beweisführung sich in formalen Spitzfindigkeiten erschöpft. So z. B. das Stellen von Fragen, auf die man nur mit ja oder nein antworten kann (Bsp.: „Schlagen Sie Ihre Frau eigentlich immer noch?“). Solche Fragen sind schon an sich eine Unterstellung und man hat keine Möglichkeit, sich nur mit ja oder nein zu verteidigen. Daher sind vor Gericht solche Formen der Befragung bei uns in der BRD unzulässig. In den USA hingegen ist dies gängige Praxis. Allerdings sind die Sophisten zu Unrecht in Verruf geraten, denn tatsächlich kennzeichnet sie v. a. ihre Liebe zur Weisheit. Die griechische Bezeichnung Sophisten bedeutet auch ‘Weise’.

Zu Regel 3: Ein Beispiel für das Erfordernis von mehr als einem Zeugen ist 5. M., Kap. 17, 6. Dass man nicht Ochs und Esel nebeneinander vor den Pflug spannen soll, besagt 5. M., Kap. 22, 10. Die Vorschrift ist auf alle ungleichen Tiere auszuweiten. Grund ist, dass entweder das starke Tier, der Ochse, für beide ziehen muß oder das schwache Tier, der Esel, so stark ziehen muß wie ein Ochse. Ein Tier soll also nicht unnötig leiden. Darin zeigt sich wieder die sehr tierfreundliche Einstellung des mosaischen Rechts.

Zu Regel 4: Nach 2. M., Kap. 21, 26 u. 27 gehört dem Sklaven die Freiheit, wenn sein Herr ihm ein Auge oder einen Zahn ausschlägt. Aus der zweifachen Wiederholung der ähnlichen Regel zu verschiedenen Körperteilen wird die allgemeine Regel aufgestellt, dass für alle Verletzungen seitens des Herrn, die zu einem irreparablen, unheilbaren Schaden führen, der Sklave freikommt. Die Entlassung in die Freiheit ist als Entschädigung für die Invalidität des Sklaven zu sehen. Auch hierin zeigt sich wieder die humane Einstellung des mosaischen Rechts hinsichtlich der Sklaven. Der jüdische Sklave hatte fast die Stellung eines Arbeitnehmers. Der jüdische Sklave bekam zwar keinen Lohn, aber er bekam eine Art Abfindung, wenn er nach sechs Jahren (Sabbatjahr) freigelassen wurde (2. M., Kap. 21, 2). Diese Bestimmung gilt jedoch nur für den jüdischen Schuldsklaven, der durch völlige Überschuldung in die Sklaverei geraten ist. Die Schuldknechtschaft war allerdings eine häufige Ursache von Sklaverei.

Zu Regel 5: Das Verbot, ein Böcklein in der Milch seiner Mutter zu kochen, wird dreimal wiederholt: Der Vers " ... und sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Muttermilch" (2. Mose 23, 19) wird als ein Verbot ausgelegt, jede Art von Fleisch mit Milch oder einem Milchprodukt zu mischen. Da derselbe Vers an verschiedenen Stellen in den fünf Büchern Moses steht, wird die Wiederholung für ein dreifaches Verbot gehalten, das es einem Juden verbietet, (ad 1) solch eine Mischung zu essen, (ad 2) sie zu irgendeinem Zwecke zu kochen und (ad 3) sie zu genießen oder auf irgendeine Weise einen Nutzen daraus zu ziehen.
Diese Vorschrift mag vielleicht gesundheitliche Hintergründe gehabt haben. Der Hauptgrund wird wohl darin liegen, dass es grausam ist, ein Jungtier in der Muttermilch zu kochen, denn diese Milch sollte eigentlich dazu dienen, das Jungtier zu nähren und am Leben zu halten. Es gibt auch eine Vorschrift, die für den Fall, dass man einen essbaren Vogel mit Jungen findet, besagt, dass man nur die Jungen essen darf. Die Begründung ist ebenfalls, dass es besonders grausam wäre, nur das Muttertier zu töten, denn dann müßten die Jungen langsam verenden. Außerdem wäre kein Nachwuchs möglich, wenn man das Muttertier tötet. Die allgemeine Vorschrift, nicht die Lebensgrundlage (von Mensch oder Tier) zu vernichten, findet sich auch in einem ganz anderen Bereich des jüdischen Rechts. Bei der Belagerung einer feindlichen Stadt war es üblich, die in der Umgebung wachsenden Bäume zu fällen, um sie für Belagerungsgeräte (Zäune, Türme, Rammböcke etc.) zu verwenden. Fruchttragende Bäume wie z. B. Obstbäume mußte man jedoch stehen lassen, um nicht die Lebensgrundlage der Bevölkerung für spätere Zeiten zu vernichten.

Aus der Stelle 3. M., Kap. 1, 1 ff. kann man vom Allgemeinen auf das Besondere schließen und umgekehrt. Ausdrücklich verallgemeinert wird an der Stelle 2. M., Kap. 22, 9, wenn jemand einem anderen ein Tier leiht. Aus der Stelle 3. M., Kap. 18, 6 ff. kann man nicht vom Einzelnen auf das Allgemeine schließen, denn es werden ausführliche Aufzählungen gemacht.

Zu Regel 6: Durch die Gegenüberstellung von zwei Bibelstellen läßt sich ein genauer Schluß ziehen. Die Konfrontation von zwei gesetzliche Formulierungen, die jede für sich allein eine bestimmte Schlussfolgerung zugelassen hätten, ergeben einen neuen Sinn.

Zu Regel 7: Jeder Jurist kennt diese Art zu denken und Schlüsse aus dem Kontext zu ziehen. Was heute eine Selbstverständlichkeit ist, musste irgendwann formuliert werden. Für die jüdischen Rechtsgelehrten hat es, wie bereits erwähnt, Hillel als erster getan.


VI. VERANSTALTUNG

Das Problem der Gesetzeslücken und der Rechtsfortbildung im jüdischen Recht:

In jedem Rechtssystem entstehen Gesetzeslücken.
Die Tora, das mosaische Recht ist als Offenbarung Gottes nicht veränderbar.
Wie halfen sich die Rechtsgelehrten, um neues Recht zu schaffen?
Die Möglichkeit hierzu bietet die Tora selbst in einer grundsätzlichen Weisung, die verfassungsmäßige Züge hat. Eine Art Grundsatz eines Gerichtsverfassungsgesetzes:

17:8 Wenn bei einem Verfahren wegen Mord, Eigentumsdelikt oder Körperverletzung - also wegen Streitsachen, über die in deinen Stadtbereichen entschieden werden darf - der Fall für dich zu ungewöhnlich liegt, dann sollst du dich aufmachen, zu der Stätte hinaufziehen, die der Herr auswählt,
 17:9 und vor die levitischen Priester und den Richter treten, der dann amtiert. Du sollst genaue Ermittlungen anstellen lassen, und sie sollen dir den Urteilsspruch verkünden.
 17:10 Dann sollst du dich an den Spruch halten, den sie dir an dieser Stätte, die der Herr auswählt, verkünden, und du sollst auf alles, was sie dich lehren, genau achten und es halten.
 17:11 An den Wortlaut der Weisung, die sie dich lehren, und an das Urteil, das sie fällen, sollst du dich halten. Von dem Spruch, den sie dir verkünden, sollst du weder rechts noch links abweichen. (5. M. 17, 8-11)

Der Gesetzgeber hat an dieser Stelle für zukünftige Probleme in seiner Voraussicht eine Lösungsmöglichkeit geebnet.
Die Rechtsgelehrten haben mehrere Maximen aufgestellt:

Regel: "Es dürfen Vereinbarungen gegen Tora-Bestimmungen getroffen werden, wenn diese nicht zwingenden Charakter haben."
Eine Aufteilung von Tora-Bestimmungen in ius dispositivum (nachgiebiges Recht, Abänderung durch die Parteien möglich) und ius cogens (von diesen Regeln darf auf keinen Fall abgewichen werden, auch nicht, wen die Parteien sich hierüber verständigen wollen).
Oft decken sich die Regeln von ius dispositivum mit ius humanum und von ius cogens mit ius divinum, jedoch nicht immer.

Regel: "Verbote dürfen in der Regel nicht verändert, Gebote dürfen meistens geändert werden."
Ein Gebot wie das Hornblasen am Feiertag (obwohl ein sakrales Gebot) darf abgeschafft, während das Verbot der Inzucht nicht abgeschafft werden darf.
Wenn es um vernünftige Lösungen geht, finden die Gelehrten einen Weg, selbst wenn er etwas widersprüchlich ist. Beim Ehevertrag kann man über Vermögenssachen Vereinbarungen treffen, nicht über anderes.
Eheschließung ist ein Vertrag, dispositives Recht. Verpflegung, Kleidung und der eheliche Beischlaf sind dem Ehemann vom Gesetz auferlegt worden (2. M. 21, 10). Trotzdem ist eine bestimmte Versorgung der Ehefrau nicht abdingbar. Hingegen kann der Beischlaf von dem Mann durch Vereinbarung abbedungen werden.

Regel: "Das Gericht kann Verordnungen verabschieden, die eine Satzung der Tora entwurzeln."
Auch sehr weitgehende Verordnungen der Gelehrten, die Bestimmungen der Tora aushöhlen, haben Gültigkeit. Begründung: Wenn eine Bestimmung verändert werden muss, um die Weisung als Ganzes zu erhalten, ist es berechtigt.
Alle Verordnungen des Gerichts oder des gesetzgeberischen Organs unterliegen der Prüfung der Akzeptanz durch die Bevölkerung. Wie im übrigen auch nach demokratischem Verständnis die wesentliche Rechtfertigung des Rechts außer in seiner Ordnungsfunktion auch in seiner Akzeptanz liegt. Deshalb:

Regel: "Man verhängt keine Maßnahme, die die Mehrheit der Gemeinde nicht durchstehen (annehmen) kann."
Dies Regel führt zu zwei Schlussfolgerungen:
1. Der Gesetzgeber wird sich vor der Verhängung einer Maßnahme vernünftigerweise erkundigen, ob diese akzeptabel sei.
2. Im nachhinein kann ein inakzeptables Gesetz von einem untergeordneten Gericht aufgehoben werden.

Ähnlich sagt Maimonides (1135 - 1204) in der Einführung zu seinem großen Gesetzeswerk, dass der Talmud seine Gültigkeit daher schöpft, dass er eben von allen Juden als das verbindliche Gesetzbuch akzeptiert wurde.
 

VII. Veranstaltung

Aus gegebenem Anlass wurde die geschichtliche und gegenwärtige Situation Jerusalems besprochen.
 
 

VIII. und IX. VERANSTALTUNG

Dr. Miller geht einführend nochmals unter Bezugnahme auf die letzten Stunden auf die verschiedenen Regeln des jüdischen Rechts ein.

Auch damals gab es schon eine Art Gerichtsverfassungsgesetz, an das man sich strikt zu halten hatte. In diesem Zusammenhang wird erwähnt, dass alle Regeln im Talmud zu finden sind.
Regel: "Die Gerichte (Gelehrten) verhängen Maßnahmen, die zeitlich erforderlich sind". ("Zeitgebundene Maßnahme")

"R. Eli'eser b. Ja'akow: Ich habe gehört, dass das Gericht entgegen dem Toragesetz bestraft" (b. San. 46a).

Es geht um folgenden Sachverhalt:
"Dort fragt er an, ob es denn sein könnte, dass die Gerichte auch wider die Tora Strafen erlassen würden." Dazu muss man wissen, dass auch im jüdischen Recht der allgemeine Grundsatz galt, nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz). Als Beispiel führt der Talmud auf, dass ein Mann ausgepeitscht wurde, weil er mit seiner Frau unter einem Feigenbaum den Beischlaf vollzogen hatte. Dieser Akt war jedoch nach mosaischem Recht nicht strafbar. Dennoch musste er eine Auspeitschung über sich ergehen lassen. Die Frage, warum die Richter eine Strafe verhängten, obwohl keine Gesetzesgrundlage vorhanden war, findet durchaus seine Berechtigung. Die Antwort (hinzuzufügen ist, dass diese Begründung erst im nachhinein erfolgte) findet sich aus dem historischen Zusammenhang. Dieses Ereignis hat sich etwa im 2. Jhd. v. Ch. ereignet. Zu dieser Zeit hatte sich der helenistische Einfluss in der gesamten Region sehr stark verbreitet. Diese Kultur hielt auch im damaligen Israel Einzug. Ein markantes Merkmal der Kultur war ihre Freizügigkeit. Um eben dieser Freizügigkeit unter den Israeliten entgegenzuwirken, sollte mit diesem Urteil ein Exempel statuiert werden. Der Mann, der unter freiem Himmel mit seiner Frau geschlafen hatte, beging keine Straftat, jedoch verstieß er gegen die guten Sitten. Es war ein Versuch des Gerichts, weitere Ausschweifungen zu verhindern. Jedoch ist hinzuzufügen, dass das Gericht contra legem gehandelt hat. Aber auch damals musste es demnach so etwas wie richterliche Fortbildung gegeben haben, so dass die Richter die Möglichkeit hatten, ihre individuellen Urteile im konkreten Einzelfall zu fällen.

Etwa im dritten Jahrhundert v.d.Zr. haben die Gerichte jedoch Maßnahmen verhängt, die nur zeitliche, also bedingte, Gültigkeit hatten, und nicht von Dauer waren. Sie hatten somit keinen generellen Anwendungscharakter. Es finden sich zahlreiche Stellen im Talmud, wo die Gerichte auch gegen herrschendes Recht (gegen die Gesetzgebung der Tora) entschieden haben.

In unserem Fall z.B. wird nicht ein neuer Straftatbestand begründet, sondern die Situation erfordert Handlung. Diese Regel deckt sich teilweise mit einer bereits oben erwähnten Regel.
Vertieft wurde diese Form der Rechtsprechung unter Hillel, dem großen Reformator. Gehäuft wurden Urteile gesprochen, die auf keiner Gesetzesgrundlage beruhten. Hillel ging sogar noch weiter. Er hat generelle Regeln geschaffen, die er für notwendig hielt, und die in damaliger Zeit erforderlich waren.

Die Problematik war, dass es laut mosaischem Recht viele Regeln gab, die gegen die Entwicklungen der Zeit sprachen, die überholt und nicht zeitgemäß waren. In diesem Zusammenhang haben die Gelehrten versucht, eine Generalnorm zu finden, die ihre Rechtsprechung unterstützte. Die geeignete Stelle, auf die sie sich berufen konnten, fanden sie im 1. Buch Könige, Kap. 18.

In dieser Geschichte hat Elias ein Opfer auf dem Berg Carmel für Gott erbracht. Nach dem Tora-Recht war dies jedoch nur in Jerusalem erlaubt. Der Prophet Elias hat in der Not der Stunde wider die Tora gehandelt. Diese Tat war lediglich in diesem geschichtlichen Zusammenhang legitim und nur für einen bestimmten Zweck erforderlich. Sie sollte keine dauerhafte, sich wiederholende Erlaubnis für Opferungen ausserhalb Jerusalems darstellen.

Ein weiteres Beispiel aus dem Talmud (b. Jona 69a), das wir in einem anderen Zusammenhang bereits gelesen hatten:
Laut überlieferter Sage begegnete Simon der Gerechte (Hoher Priester vom Tempel zu Jerusdalem) Alexander dem Großen (historisch falsch, da Alexander der Große nicht bis nach Jerusalem vorstieß). Bei dieser Gelegenheit trug  Simon der Gerechte seine Amtskleidung ausserhalb des Tempels. Das war verboten. Er hielt dies zu diesem Zeitpunkt jedoch für nötig. Diese Maßnahme war zu diesem Zeitpunkt und für diese einmalige Handlung erforderlich (Alexander Ehre zu erweisen und seine Freundschaft zu gewinnen).

Diese beiden Beispiele wurden im Talmud aufgeführt, um die obige Regel zu begründen.

Zu den zeitbedingten Maßnahmen wird noch folgendes hinzugefügt:

Es gab zwei verschiedene Arten von Maßnahmen:
1) Urteile für den speziellen Fall.
2) Urteile, deren Maßnahmen auf längere Zeit angelegt waren.

Urteile für den speziellen Fall hatten nur für eben diesen einen Fall und zu diesem bestimmten Zeitpunkt Gültigkeit. Das Urteil kann nicht beliebig wiederholt werden.
Urteile deren Maßnahme auf einen längeren Zeitpunkt angelegt waren. Diese sind ebenfalls auf dieselbe Weise entstanden wie Maßnahmen für den speziellen Fall. Jedoch galten Sie über einen längeren Zeitpunkt hinaus. Es gab jedoch die Möglichkeit, diese wieder aufzuheben. Für die Aufhebung solch eines Urteils gab es folgende Kriterien:

1. Wenn es um eine gesetzliche Maßnahme ging, die nicht mittels hermeneutischen Regeln entstanden war. 2. Wenn das erste Gericht, das eine Maßnahme verhängt, diese nur ausdrücklich zeitbedingt errichtet hatte. 3. Wenn sich herausgestellt hat, dass die richterliche Maßnahme oder das Gesetz sich doch nicht im Volk verbreitet hatten. 4. Wenn der Grund für die Maßnahme entfallen ist.

Bei der letzteren Art von Urteilen wird folgendes Beispiel aufgeführt:
In der Zeit des Talmud war es verboten (Laut Anordnung der Rechtsgelehrten), Kleinvieh zu halten, da diese die Weiden zerstörten. Das Problem ergab sich vor Gründung des Staates Israel im Jahr 1948, als religiöse Gruppen fragten, ob Sie denn Kleinvieh halten dürften, obwohl es laut talmudischem Recht verboten war. Ein bekannter Rabbiner entschied daraufhin, dass der Grund für das talmudische Verbot (die Verödung des Landes) weggefallen und das Gesetz deshalb nicht mehr anzuwenden ist.

Zu der Willkürlichkeit von Gummiparagraphen: In jedem Rechtssystem gibt es die Möglichkeit, willkürliche Entscheidungen zu treffen. Man muss sich auch auf den "gesunden Menschenverstand", was die Engländer "common sense" nennen, verlassen können; und diese Eigenschaft war bei den Talmudgelehrten stark verbreitet. Zur Illustration ein aktuelles Beispiel aus der Gegenwart: Die Präsidentschaftswahl in den USA. Die machinelle Auszählung der Stimmen hat falsche Zahlen geliefert. Eine Handauszählung hätte ein genaues Bild abgegeben. Dennoch hat der Supreme Court von Washington mit 5 gegen 4 Stimmen für die maschinelle Auszählung votiert. Die hier aufgezeigte Problematik verdeutlicht, dass gegen den "gesunden Menschenverstand" nicht das Volk entschieden hat, wer Präsident werden soll, sondern ein Gericht.

Trotzdem: Problematisch an diesem „Gummiparagraphen“ ist jedoch, dass er im Zweifel der Willkür der Gerichte Tür und Tor öffnen könnte. Hierzu finden wir jedoch im Talmud eine andere Regel, die die obige Regel relativiert und die Möglichkeit des Missbrauchs einschränkt:

Regel: "Ein Gericht kann die Bestimmung eines anderen Gerichts nur dann aufheben, wenn es jenes an Weisheit und Anzahl übertrifft" (b. Edu. I, 5).
Mit anderen Worten: Prinzipiell und unter bestimmten Voraussetzungen können Entscheidungen, Verordnungen und Gesetze aufgehoben werden.
Eine Aufhebung eines Urteils, einer Verordnung oder Maßnahme konnte nur von einem gleichwertigen Gericht unter bestimmten Voraussetzungen vorgenommen werden. Das Gericht musste dem vorherigen Gericht an Anzahl und Weisheit überlegen sein. Diese Werte sind jedoch nicht definierbar. Es gibt keine genaue Definition über die „überlegenere Weisheit“ und auch nicht für die "Anzahl". Dies könnte man zweckgebunden ausgelegen. Es war möglicherweise Absicht, keine genaue Definition zu geben, um den nachfolgenden Generationen die Möglichkeit zu erhalten, Urteile und gesetzliche Maßnahmen  aufzuheben und der Zeit anzupassen.

An der gleichen Stelle im Talmud heißt es weiter:
„Weshalb wird die Ansicht eines einzelnen gegen die der Mehrheit aufgeführt, wo doch das Recht nur nach der Mehrheit entschieden wird?"
Es ist auffallend, dass im Talmud jeweils die abweichenden Meinungen mitgeliefert werden, eigentlich die gesamte Diskussion, die zu den unterschiedlichen Standpunkten geführt hatte. Es wurde, so der Talmud, deshalb so verfahren, damit ein Gericht bei einem ähnlichen Fall die Möglichkeit hatte, sich anders zu entscheiden, was natürlich nur möglich war, wenn die abweichende Meinung bekannt war, so dass sich der Richter einer späteren Zeit diese Meinung zu eigen machen konnte.

Ein weiterer Grund: Es gab nämlich auch Bräuche, die zum Gewohnheitsrecht wurden. Behauptete zum Beispiel jemand, dass es da einen bestimmten Brauch gegeben hat, der in Wirklichkeit kein Brauch war, sondern eine von der Mehrheitsentscheidung abweichende Meinung, konnte dies aufgrund der Überlieferung nachgewiesen werden.

Die Rechtsinstitution Prosbol:
Eine sehr wichtige Reform wurde von Hillel (kurz vor der Zeitrechnung) bezüglich der Vergabe von Darlehen eingeführt. Laut mosaischem Recht war das siebente Jahr immer das Erlassjahr (5. Moses 15, 2 und 9). Es bedeutete u.a., dass Schuld-ner nach Ablauf des sechsten Jahres ihre Schulden nicht mehr bezahlen mussten und die Gläubiger keine Möglichkeit mehr hatten, ihre Forderungen einzufordern. Dies hatte natürlich zur Folge, dass die Menschen untereinander, sobald das siebente Jahr nahte, kein Geld mehr verleihen wollten aus Angst, ihr Geld nicht mehr eintreiben zu können. In zweierlei Hinsicht war dieser Zustand nicht mehr zu vertreten: Er hatte für die arme, auf Darlehen angewiesene Bevölkerung und für die Wirtschaft verheerende Folgen, zudem war er religionsbedingt unerträglich, weil die Verweigerung von Darlehensvergabe eine schwere Sünde darstellte. Hillel erließ eine Verordnung, die den Gläubiger schützen sollte. Er richtete den Prosbol ein.

Der P. war ein schriftlicher, von Richtern und Zeugen unterschriebener Protest gegen die Verjährung, der durch die Deponierung beim Gericht rechtliche Wirksamkeit erhielt. Er enthielt die Formel: "Ich erkläre hierdurch gegenüber Euch  Richtern N und N des Ortes X, dass ich alle Forderungen, die mir gegenüber Y zustehen, zu jeder mir beliebenden Zeit eintreiben werde" (Gitt. 36a; Schew. 10, 3. 4). Der Gläubiger konnte dann der Einrede der Verjährung des Klagerechts von seiten der Schuldner unter Hinweis auf diesen P. entgegentreten.

Um diese Maßnahme, die gegen das Toragesetz verstieß, zu rechtfertigen, erklärten die späteren Gelehrten der Gemara, der Schuldner habe durch dieses Schreiben das Eigentum an der in seinem Besitz befindlichen Schuld an den Gläubiger abgetreten. Durch diese Fiktion hat der Gläubiger seine Forderung beim Schuldner als sein Eigentum eingefordert, die quasi keine Schuldforderung mehr war.
Das Darlehen, das Eigentum des Schuldners ist, geht über in das Eigentum des Gläubigers, und somit wird kein Übertritt eines Gebots vorgenommen, der Gläubiger fordert lediglich sein Eigentum zurück.
Die rechtliche Grundlage für diese Maßnahme des Hillel wurde in späterer Zeit (drei oder vier Jahrhunderte danach) von den Talmudisten in der Gemara geliefert:
Das Gericht ist befugt, eine Sache freizugeben, für herrenlos zu erklären, somit den Besitzer zu enteignen und das Eigentum an einen Dritten zu übertragen.

Regel: "Die Freigabe durch das Gericht ist gültig" (b. Gitt. 36b).

Diese weitgehende Befugnis des Gerichts  wird aus Jos. 19, 51 und Esr. 10, 8 abgeleitet und ist die Grundlage für zahlreiche Enteignungen durch Behörden und Gerichte.
Im Buch Josua geht es darum, dass das Land Kanaan unter den Stämmen Israels aufgeteilt wurde. Im Buch Esra wurde den Personen, die nicht zur Versammlung erscheinen sollten, mit der Beschlagnahme ihres Eigentums gedroht. Dadurch wurde das Land oder das Eigentum, so die Talmudisten, freigegeben, also für herrenlos erklärt, und konnte einem anderen übereignet werden.

Das Erlassjahr bezog sich insbesondere auf den Kauf von Land, das im siebten Jahr immer an den Verkäufer zurückgegeben wurde. Es wurde später erörtert, dass diese Erlassregel eigentlich gar nicht mehr anwendbar war, da nach der Zerstörung des Tempels das Land an die Sieger übergegangen und diese Regel faktisch nicht mehr durchzuführen war. Und da die Regelung mit dem Boden nicht mehr galt, sollte man die Analogie zum Geld herstellen und diese Regel ebenfalls nicht mehr anwenden. Einige Gelehrte vertraten jedoch die Meinung, dass das Erlassjahr als Erinnerung weiterhin angewandt werden sollte.

Die Frage, die sich später den Talmudisten stellte, war, ob der Prosbol nur für die Generation des Hillel eingeführt wurde oder aber auch für kommende Generationen.

Die konservativen Gelehrten in talmudischer Zeit hielten die Anwendung für eine Schande, und hätten sie die Macht gehabt den Prosbol wieder abzuschaffen, so hätten sie dies getan. Die moderneren Gelehrten vertraten die Auffassung, den Prosbol nicht nur bestehen zu lassen, sondern seine Anwendung auch noch dadurch zu erleichtern, dass man auf die Ausfertigung der fiktiven Übereignungurkunde an das Gericht verzichtete. Diese Einstellung hat sich auch alsbald durchgesetzt.

Exkurs in ethische Normen des mosaischen Rechts:

Erlassjahr:
Der Erlass der Schulden, wie wir gesehen haben, ist ethisch begründet, gegenüber dem Gläubiger jedoch ungerecht , und wurde, wie wir gesehen haben, wieder abgeschafft.
Es werden weitere Beispiele aus der Bibel zitiert, die ähnlich wie das Erlassjahr in das Eigentumsrecht des Individuums eingreifen, um höhere Ziele der Ethik zu verwirklichen.

Zinsen:
Wenn man Geld verleiht, dürfen keine Zinsen erhoben werden (3. M. 25, 35-36). Das ist auch eine sehr noble Norm, konnte sich jedoch auf die Dauer nicht halten. Die Gelehrten haben auch hier einen Weg gefunden, um dieses mosaische Gebot zu umgehen. Sie haben den Gläubiger und den Schuldner zu Geschäftspartnern erklärt. Die „Zinsen“ waren somit keine Zinsen im üblichen Sinne, sondern nur ein Anteil am gemeinsam erwirtschafteten Gewinn. Diese als-ob-Partnerschaft ist ebenfalls eine Fiktion.

Sklavenrecht:
Das Verbot von Auslieferung des entflohenen Sklaven an seinen Besitzer wendet sich gegen die Eigentumsrechte des Sklavenhalters (5. M. 23, 16). Die Freiheit und Würde des Menschen waren jedoch für das mosaische Recht wichtiger.

Rechte der Armen:
Vorschriften über Überlassung von Getreide auf den Feldern an die Armen. Der Bauer durfte die Felder nicht vollständig ernten, sondern mußte die Ecken (Ränder) für die Armen stehen lassen und durfte auch nicht Nachlese halten (3. Moses 19, 9).

Bei diesen Regeln handelt es sich um Eingriffe in das Eigentumsrecht des Individuums, jedoch hat das mosaische Recht in diesen Fällen (wie auch in anderen) der Ethik einen höherer Stellenwert zuerkannt als dem Eigentumsrecht.
 


X. VERANSTALTUNG


 

Wiederholung der 8. und 9. Veranstaltung
 


XI. und XII. VERANSTALTUNG


 

Die Fiktion im Jüdischen Recht

Es werden einige Äußerungen Rechtsgelehrter zum Begriff Fiktion zitiert und erörtert:

Die Fiktion ist eine jur. Technik, die eine Tatsache oder eine Situation voraussetzt, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Das Ziel ist, ein juristisches Ergebnis zu erreichen. Der Unterschied zwischen F. und Lüge ist, dass die Lüge absichtlich irreführen will.

Eine Fahrlässigkeit oder eine Leichtfertigkeit begeht ein Mensch, der sich nicht durchschnittlich vernünftig verhält. Er ist eine Erfindung von Juristen, eben eine Fiktion, um einen Maßstab zu schaffen, nach dem alle Menschen gleich behandelt werden.

Ignorantia iuris neminem excusat - Rechtsunkenntnis schützt nicht vor Strafe. Diese Fiktion ist nicht widerlegbar, jedoch unbefriedigend, da der Mensch das Recht tatsächlich nicht hätte kennen müssen.

Dieses Problem, d.h. dass der Mensch sich auf Unkenntnis des Verbots seiner Handlung herausredet, hat das Jüdische Recht mit der Feststellung gelöst: "Ein Mensch gilt stets als verwarnt, ob unvorsätzlich oder vorsätzlich" (b B.K. 2, 6). Dieses Axiom besagt, dass der Mensch immer in der Lage ist, Schaden anzurichten. Hat er solches getan, ist er auch verantwortlich.

Das Jüdische Recht ist das Rechtssystem mit den meisten rechtlichen Fiktionen.
Anschließend wird aus dem Aufsatz Fiktion im Jüdischen Recht von M. Cohn gelesen:

In der Wissenschaft finden oft Fiktionen Anwendung, durch die aus Gründen der Zweckmäßigkeit für eine bestimmte Erkenntnis ein Tatbestand angenommen wird, von dessen Unwirklichkeit, bisweilen auch Unwahrscheinlichkeit, man zwar überzeugt ist, der aber gleichwohl als ein "Kunstgriff des Geistes" die Erkenntnis oder Formulierung eines Gedankens fördert.  Durch die F. wird, ähnlich wie durch die Vermutung (Präsumtion), eine Lücke im Tatbestand oder im Schlusse ausgefüllt. Ein Tatbestand wird, obwohl er unwirklich ist, so angenommen, als ob er wirklich und möglich wäre. In Philosophie, Religion, Natur- und Rechtslehre wird wiederholt mit Fiktionen gearbeitet.
Der Neukantianer Vaihinger hat in seiner Philosophie das "als ob" als ein umfassendes System der "theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit aufgrund eines idealistischen Positivismus" aufgebaut.
Auch im jüdischen Recht, und zwar sowohl im Gebiete des Privatrechts wie im Rechte des Kultus und des Rituals werden Fiktionen oft zur Begründung einer Norm wie auch zur Beleuchtung einer Rechtsidee angewandt. Die F. wird im Talmud wiederholt mit dem Ausdruck "es ist, als ob er ihm erklärt hätte" bezeichnet (vgl. z. B. b. B. M. 34a).


Zur Illustration und zur Vertiefung des "als ob" Gedankens im Talmud wird die 1. Mischna im Kap. III des Traktats b. Baba Mezia und die einschlägige Diskussion in der Gemara (obige Stelle) gelesen. Es geht hier im Talmud um eine von vier Verwahrungsformen des Jüdischen Rechts, um die Verwahrung ohne Vergütung (s. auch BGB § 688 ff):
 

DRITTER ABSCHNITT

1. MISCHNA

WENN JEMAND SEINEM NÄCHSTEN VIEH ODER GERÄTE ZUR VERWAHRUNG GEGEBEN HAT UND SIE GESTOHLEN WORDEN ODER ABHANDENGEKOMMEN SIND, UND DER VERWAHRER BEZAHLT DEM INHABER SEINEN VERLUST UND WILL NICHT SCHWÖREN, DASS ES OHNE SEIN VERSCHULDEN GESCHAH (denn wenn er den Eid leistet, muss er den Schaden nicht ersetzen), DIE WEISEN SAGTEN NÄMLICH, EIN UNENTGELTLICHER HÜTER KÖNNE SCHWÖREN UND ERSATZFREI SEIN, SO MUSS DER DIEB, WENN ER GEFUNDEN WIRD, DAS DOPPELTE, UND WENN ER ES GESCHLACHTET ODER VERKAUFT HAT, DAS VIER- ODER FÜNFFACHE AN DEN DEPOSITAR (den Verwahrer) ZAHLEN; WENN ER ABER SCHWÖRT UND NICHT BEZAHLEN WILL, SO MUSS DER DIEB, WENN ER GEFUNDEN WIRD, DAS DOPPELTE, UND WENN ER ES GESCHLACHTET ODER VERKAUFT HAT, DAS VIER ODER FÜNFFACHE AN DEN DEPOSITOR (den Hinterleger) ZAHLEN.

GEMARA

Wozu braucht dies vom Vieh und von Geräten einzeln gelehrt zu werden? Dies ist nötig! Würde die Mischna es nur vom Vieh gelehrt haben, so könnte man glauben, nur bei einem Vieh eigne der Hinterleger dem Verwahrer das Doppelte zu, weil er viel Mühe hatte beim zuführen und zurückbringen von der Weide, bei Geräten aber, bei denen er nicht viel Mühe hatte, eigne er ihm das Doppelte nicht zu. Und würde die Mischna es nur von Geräten gelehrt haben, so könnte man glauben, nur bei Geräten eigne er ihm das Doppelte zu, weil die Mehrzahlung nicht bedeutend ist, beim Vieh aber, für das der Dieb, wenn er es geschlachtet oder verkauft hat, das Vier- oder Fünffache zahlen muss, eigne er ihm das Doppelte nicht zu. Daher ist beides nötig.
Rami b. Chama wandte ein: Man kann ja nicht etwas zueignen, was noch nicht auf die Welt gekommen ist? Und selbst nach R. Meir, welcher sagt, man könne das, was noch nicht auf die Welt gekommen ist, wohl zueignen, gilt dies nur von den Früchten einer Dattelpalme, die mit Sicherheit kommen, hierbei aber ist es ja nicht ausgemacht, dass die Sache gestohlen werden wird. Und wenn man auch voraussetzen will, dass es wohl gestohlen werden wird, so ist es ja nicht ausgemacht, dass der Dieb gefunden wird; und auch wenn der Dieb gefunden wird, ist es ja nicht ausgemacht, dass er bezahlt, denn er kann ja ein Geständnis ablegen und von der Bußzahlung frei sein. Raba erwiderte: Es ist ebenso, als würde der Hinterleger dem Verwahrer bereits während der Übergabe der Sache zur Verwahrung gesagt haben: falls es gestohlen wird und du mir den Schaden erstatten willst, sei dir meine Kuh von jetzt ab zugeeignet. R. Zera wandte ein: Demnach sollte dies auch von der Schurwolle und von den neugeborenen Jungen der Kuh gelten, die während der Verwahrungszeit bis zum Diebstahl produziert wurden (diese sollten auch dem Verwahrer gehören), warum wird dann gelehrt: mit Ausnahme der Schur und der Jungen? Vielmehr, erklärte R. Zera, es ist ebenso, als würde er zu ihm gesagt haben, mit Ausnahme der Schur und der Jungen. Weshalb dieser Unterschied zwischen dem zu erwartenden Doppelten und der zu erwartenden Schur oder Jungen? Es ist nämlich üblicherweise so, dass den Gewinn, mit dem man nicht rechnet, man zuzueignen pflegt, den Gewinn aber, der vom Körper selber kommt, man nicht zuzueignen pflegt. Manche lesen: Raba sagte: Es ist ebenso, als würde er zu ihm gesagt haben: falls es gestohlen wird und du mir den Schaden erstatten willst, sei es dir kurz vor dem Stehlen zugeeignet. Welchen Unterschied gibt es zwischen ihnen? Den Einwand R. Zeras (dieser kann nur gegen die erste Lesart erhoben werden); oder auch, wenn es sich auf der Weide befunden hatte (denn nach der ersten Lesart eignet es dem Verwahrer, nach der zweiten Lesart wäre es nicht der Fall, wenn die Kuh auf der Weide gestohlen wurde und sich nicht im Besitz des Verwahrers befand, denn dann konnte sie nicht in sein Eigentum übergehen).


Es wird weiter bei M. Cohn gelesen:

Eine bedeutsame Rolle spielt die Fiktion ferner beim Erwerbsakt. Insbesondere wird die Zulassung der Abtretung eines Darlehens in Gegenwart von drei Personen ausdrücklich mit der Fiktion begründet: "Es ist so, als ob der Schuldner im Zeitpunkt der Entgegennahme des Darlehens dem Gläubiger erklärt hätte: Ich unterwerfe mich dir und allen deinen Rechtsnachfolgern" (b. Gitt. 13b).

In der nachtalmudischen Zeit, im Mittelalter, wurde mit zunehmendem Handel und Reisen der Geschäftsleute die Eintreibung von Darlehen durch die Gläubiger zum Problem. Der Gläubiger, der einen Schuldner in einer entfernten Stadt verklagen wollte, musste die Forderung einem Dritten übereignen. Dies ging jedoch nicht, denn eine virtuelle Forderung war nach jüdischem Recht nichts Gegenständliches, an dem man Eigentum erwerben konnte. Der Schuldner konnte dem Dritten sagen: "Mit dir habe ich nichts zu tun". Da jedoch nur eine Sache (ein Deposit, ein verwahrter Gegenstand) übereignet werden konnte, nicht aber ein Darlehen, konnte sich der Schuldner seiner Pflicht zur Zahlung entziehen. Es wurden von den Gelehrten verschiedene Fiktionsmodelle konstruiert. Eines dieser Modelle lautete, dass der Gläubiger einer dritten Person die Forderung zusammen mit einem Eigentum am Boden übereignet. Da jedoch nicht jeder Jude Boden zu Eigentum, hatte, wurde fingiert, als ob jeder Jude 4 qm Ellen an Boden in Israel besitze. Der Boden sei schließlich Eigentum Gottes, und auch die Tatsache der Besiedlung durch andere Völker nichts daran ändere. Diese Konstruktion wurde von den meisten Gelehrten dann doch nicht akzeptiert. Es wurde dann eine andere Fiktion geschaffen, dass der Gläubiger einfach erklärte, er besitze Boden; und sogar wenn Zeugen behaupteten, dies stimme nicht, wurde diese Erklärung als wahr angenommen, nach dem Grundsatz im Jüdischen Recht, dass "das Geständnis einer Partei mehr zähle, als einhundert Zeugen".

In späterer Zeit hat das jüdische Recht auch die Vollmacht bei solchen Geschäften zugelassen.
Bei M. Cohn lesen wir weiter:

Auch bei der Eheschließung findet die Fiktion in mancher Hinsicht Anwendung.  Zunächst wird bei der Antrauung der Ehefrau ein Kauf derselben durch ein Kaufsymbol fingiert (Ring); durch den Baldachin wird sodann die Fiktion der tatsächlichen Vereinigung der Ehegatten geschaffen. Von Bedeutung ist die Fiktion besonders bei der Eheschließung, von der angenommen wird, dass sie nur aufgrund der von den Gelehrten vorgeschriebenen Gesetze vollzogen wurde.

Denn wenn die Eheschließung von den Rabbanan und nicht durch ein Gottes Gesetz vollzogen wurde, so konnte sie auch von den Rabbanan aufgelöst werden, was die Grundlage für eine notwendige Auflösung von Ehen war.

Bei der Freilassung des kanaanitischen (allgemein für nicht-hebräischen) Sklaven durch Übergabe einer Urkunde an ihn wird die Fiktion aufgestellt, als ob Urkunde und Besitzrecht gleichzeitig in Erscheinung träten, so dass der Sklave, der zuvor alles für seinen Herrn erwirbt, die Befreiungsurkunde im Moment der Freilassung für sich selbst erwerben kann.

Das juristische Problem, mit dem sich der Talmud auseinandersetzt, ist, wie der Sklave, der selbst Eigentum seines Herrn ist und kein eigenes Eigentum erwerben kann, da alles, was er in Besitz nimmt (auch ein gefundener Gegenstand z.B.) in diesem Augenblick Eigentum seines Herrn wird, Eigentum an der Urkunde erwerben soll, die ihm überreicht wird.

Wir lesen die Mischna Kid. I, 1 zur Eheschließung und die Mischna Kid. I, 3 zur Freilassung des kanaanitischen Sklaven und die Erläuterungen dazu in der Gemara. Interessant zu bemerken, dass die Erwerbsart des k. Sklaven gleichfalls im Traktat Kiduschin (Eheschließungen) behandelt wird. Dies vermutlich wegen der Ähnlichkeit der "Erwerbsarten" von Ehefrau und Sklave, oder wegen der Assoziationen, die die beiden Erwerbsarten hervorrufen. Jedoch muss man hinzufügen, dass der Sklave andererseits wie der Boden erworben und eigentlich, wie es damals üblich war (in Amerika des 19. Jhdts auch nicht anders), als Sache behandelt wurde. Trotzdem sieht man, dass bei den Überlegungen im Talmud bezüglich des Erwerbs der Befreiungsurkunde durch den Sklaven, er als ein Rechtssubjekt behandelt wird.
 

1. MISCHNA

Die Frau wird (von ihrem Ehemann zur Ehefrau) auf drei Arten angeeignet und eignet sich selbst an (sie kommt aus dem Besitz ihres Ehemannes und erlangt ihre Selbständigkeit) auf zwei Arten: sie wird angeeignet durch Geld (wenn er ihr zu diesem Behufe ein Geldstück gibt), Urkunde (die Antrauungsurkunde) und Beischlaf (wenn er zum Zweck der Ehelichung erfolgt). Durch Geld, wie die Schule Schamajs sagt, mit einem Dinar und dem Werte eines Dinars, und wie die Schule Hillels sagt, mit einer Peruta (kleinste Scheidemünze) und dem Werte einer Peruta. Wie viel ist eine Peruta? Ein Achtel eines italienischen Assars. Sie eignet sich selbst an (kommt frei) durch Scheidebrief oder Tod ihres Ehemannes. Die Eheschwägerin wird angeeignet durch Beischlaf und eignet sich selbst an durch Chaliza (ein bestimmtes Ritual) oder Tod des Eheschwagers.

3. MISCHNA

Der kanaanitische Sklave (gemeint ist jeder nicht hebräische Sklave) wird angeeignet durch Geld, Urkunde und Besitznahme, und eignet sich selbst an (d.h. er kauft sich frei) durch Geld, das andere für ihn zahlen (denn wenn er im Besitz von Geld ist, so gehört es seinem Herrn) und durch Urkunde, die er selber empfängt - so R. Meir. Die Gelehrten sagen: durch Geld, das er selber zahlt, und durch Urkunde, die andere für ihn empfangen, nur muß es das Geld anderer sein.

GEMARA

In der Mischna heißt es: "Und eignet sich selbst an etc". Durch Geld, das andere zahlen, nicht aber, das er selber zahlt. Wie ist das gemeint?: Sollte das heißen, dass dies ohne sein Wissen (d.h. der Sklave weiß nicht, dass andere für ihn das Lösegeld gezahlt haben) geschieht? So kennen wir doch die Ansicht des R. Meir, dass es eine Benachteiligung für den Sklaven sein kann, wenn er aus dem Besitze seines Herrn in Freiheit gelangt (denn in der Freiheit würde er sich möglicherweise schlechter stellen). Wir haben aber gelernt, man könne jemand in seiner Abwesenheit bevorteilen, benachteiligen aber nur in seiner Gegenwart (gemeint ist, dass man jemanden nicht hinterrücks ohne sein Einverständnis benachteiligt, wobei es durchaus legitim erscheint, jemanden ohne sein Wissen zu bevorteilen). Demnach kann man den Sklaven ohne sein Wissen nicht benachteiligen, indem man ihn freikauft. Also muss man diesen Satz so verstehen, dass der Sklave doch wohl mit seinem Wissen losgekauft wird. Weiterhin lehrt die Mischna: nur durch Geld, das andere für ihn zahlen, nicht aber durch ihn selbst; demnach kann ein Sklave ohne seinen Herrn nichts erwerben (denn alles, was er erwirbt, geht sofort in den Besitz des Herrn über). Wie ist dann aber der Schlusssatz der Mischna zu erklären: „durch Urkunde, die er selber empfängt“, was wohl heißen soll, nur die er selber empfängt, nicht aber andere für ihn in Empfang nehmen?! Dies scheint etwas widersprüchlich zu sein, denn wenn der Loskauf mit seinem Wissen geschieht, weshalb dann nicht durch andere Personen? Die Antwort darauf wäre, dass mit den Worten 'die er selber empfängt’ gemeint sein könnte: auch wenn er selber sie empfängt, womit die Mischna zum Ausdruck bringen will, oder vielmehr wir daraus lernen könnten, dass Urkunde und Besitzrecht gleichzeitig in Kraft treten.

Mit diesen Worten ist die Diskussion noch lange nicht zu Ende. Im Seminar ging es darum, zu zeigen, wie die Talmudgelehrten ihre komplizierten Schlussfolgerungen zogen, in diesem Fall nebenbei die Möglichkeit einer Fiktion erwogen, dass in einem bestimmten theoretischen Moment ein Sklave seine Befreiungsurkunde erwerben kann, auch wenn er eigentlich kein Erwerbsrecht hat. Nebenbei wird darauf aufmerksam gemacht, dass der nichthebräische Sklave (wie bereits erwähnt) hier durchaus als ein Rechtssubjekt, also als ein freier Mensch behandelt wird, indem Rücksicht darauf genommen wird, dass man ihn nicht in seiner Abwesenheit, also ohne sein Wissen, ohne sein Einverständnis, benachteiligen darf.

Zum Schluss wird das Ergebnis der langen Erörterung in der Gemara mit den folgenden Positionen zusammengefasst:

- Nach R. Meir: Der Sklave kommt frei, wenn das Geld durch andre gezahlt wurde, oder wenn er die Urkunde selbst in Empfang genommen hat.

- Nach R. Schimon: In beiden Fällen, also sowohl mit Geld als auch mit Urkunde, kommt der Sklave frei, wenn dies durch andere und nicht durch ihn selbst erfolgte.

- Nach den Rabbanan (und das ist letzten Endes entscheidend, denn die Halacha, die Regel richtet sich nach der Mehrheit): In beiden Fällen (also Geldzahlung oder Überreichung der Befreiungsurkunde) kommt der Sklave frei, sowohl wenn dies durch andere geschah als auch durch ihn selbst.

Ein weiteres Beispiel von M. Cohn zur Fiktion eines Todesfalles von Personen, wobei der genaue Zeitpunkt des Eintritts des Todes nicht bestimmt werden kann. (Die Lösung des Jüdischen Rechts gleicht hier den Bestimmungen, wie sie heute in den meisten Staaten, auch Deutschland, gelten).

Beim Anfall einer Erbschaft wird im Fall des gleichzeitigen Todes von mehreren Erblassern beim Einsturz eines Hauses mit Hilfe einer F. angenommen, der Tod derselben sei im gleichen Moment eingetreten (B. B. IX 8, 9; b. B. B. 157a ff.), so dass auch das Erbrecht der verschiedenen in Betracht kommenden Erben entsprechend dieser F. seine Regelung findet.

Zum Schluss dieses Themas eine Bemerkung des Gelehrten Rosch (R. Ascher ben Jechiel, um 1250 in Deutschland geb. bis 1327), die eine moderne praktische hermeneutische Regel bildet:

Im 13. Jhdt pflegten Schuldner ihr Eigentum auf andere Personen zu übertragen, um so dem Zugriff der Gläubiger zu entgehen. Formal war es schwierig, etwas dagegen zu tun. (In Deutschland wurde das Problem der Gläubigeranfechtung gegen das Verschieben von Eigentum im Anfechtungsgesetz vom 21.7.1879 geregelt.) Ausgangspunkt für eine befriedigende Lösung für die Gläubiger war das Retraktrecht, Anliegerrecht. Danach hatte im jüdischen Recht der Talmudzeit der Anlieger eines Grundstücks oder Feldes das Vorkaufsrecht, nicht jedoch, wenn mit diesem Recht Missbrauch getrieben werden sollte. Rosch beruft sich auf die Regelung im Retraktrecht (b B.M. 108): Wenn jemand ein Grundstück mitten im Gebiet eines anderen kauft, so gilt das Vorkaufsrecht nur, wenn es einen besonderen und redlichen Grund für den Kauf gegeben hat, nicht aber, wenn der Kauf getätigt wurde mit der unredlichen Absicht, die Nachbargrundstücke aufzukaufen. Analog dazu entscheidet Rosch, dass solch eine Verschiebung von Eigentum ungültig sei. Ferner bemerkt er (Schut, Response, Par. 3):

"Aus all dem sehen wir, dass gegen jeden, der die Anordnungen der Weisen hintergehen will, um seinen Nächsten zu beschädigen, wir eine List gefunden haben, um seinen bösen Gedanken aufzuheben. Und wir müssen eine Sache aus der anderen lernen, denn die Weisen des Talmud konnten nicht alles aufschreiben, was kommen und sich täglich erneuern wird; jedoch können die Nachkommen in ihre Fußstapfen treten und eine Sache mit der anderen vergleichen".

XIII. VERANSTALTUNG

Die Hausarbeit „Wer schrieb die Bibel“ wurde vom Verfasser referiert und das Thema wurde ausführlich behandelt (die Hausarbeit kann unter diesem Titel bei den Hausarbeiten auf dieser Webside nachgelesen werden).