Rechtsgeschichte

Frank Crüsemann

Die Tora

Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes

Zusammenfassung der Kapitel VII und VIII

  

Hausarbeit zum Erwerb eines Seminarscheins

vorgelegt von: Timm Laux

Inhalt und Gliederung:

VII: Die Priesterschrift – die notwendige Transformation

1. Literarische Struktur und historischer Ort

a. Das Heiligkeitsgesetz als Teil der Priesterschrift

b. Exilische Zukunftsplanung und priesterliche Urbilder

2. Die rechtsgeschichtliche Herausforderung des Exils

3. Rituale der Diaspora

a. Todesrecht und Blutgenuss

b. Bund und Beschneidung

c. Endogamie

d. Passa

e. Sabbat

f. Zusammenfassung

4. Heiligkeit als Gestalt der Freiheit

a. Der Exodus als Heiligung

b. Heiligkeit als Rechtsprinzip

5. Leben mit der Schuld – Sühne und Vergebung

a. Sündopfer und Versöhnungstag – das entschuldete Volk

b. Zwischen Austilgung und Vergebung – das schuldige Individuum

c. Schuldbewusstsein – die Eröffnung der Innerlichkeit

6. Die Nächstenliebe und ihr Kontext – eine Zusammenfassung

VIII. Der Pentateuch als Tora – der Weg als Teil des Ziels

1. Der Pentateuch als Produkt der persischen Zeit

a. Literarische Voraussetzungen und begriffliche Selbstbezeichnung

b. Der zeitliche und historische Rahmen

c. Das Esragesetz und die Reichsautorisation

2. Der Pentateuch im politisch-sozialen Kräftefeld – Trägergruppen und Tendenzen

a. Überschuldete und Priester – die soziale Konstellation

b. Judäa und die Diaspora – die Einheit des Volkes

c. Die persische Herrschaft – die Differenz zur Prophetie

d. Die Nachbarprovinzen – die offene Verheißung

3. Aspekte de Komposition und der Theologie

a. Ein persisches Reichsprinzip als Hintergrund?

b. »Gott soll mit uns reden« – die Rolle des Dekalogs

c. »Die ganze Gemeinde ist heilig« – der offene Konflikt

d. »Und weiter durch die Generationen« – Weisung auf dem Weg in die Zukunft

4. Die Einheit Gottes und die der Tora – zum Ansatzpunkt einer christlichen Tora-Rezeption

 

VII: Die Priesterschrift – die notwendige Transformation

1. Literarische Struktur und historischer Ort

a. Das Heiligkeitsgesetz als Teil der Priesterschrift

Das sogenannte Heiligkeitsgesetz wird üblicherweise als eine Fortführung und Verfeinerung des Deuteronomiums gesehen, wie das Deuteronomium eine Verfeinerung des Bundesbuches ist. Crüsemann vertritt einhellig mit der neueren Forschung die Ansicht, das Heiligkeitsgesetz sei keine eigenständige Kodifikation, sondern nur als ein Teil der Priesterschrift zu sehen, welche als Ganzes eine Weiterführung des bereits genannten Deuteronomiums darstelle (Crüsemann 1997: S. 324).

Das stärkste Argument für die klassische Ansicht, beim Heiligkeitsgesetz handele es sich um ein eigenständiges Rechtsbuch, ist die Analogie im Aufbau zum Deuteronomium wie zum Bundesbuch. Ein thematisch ähnlicher Aufbau, jedoch mit Detailkorrekturen und Verbesserungen, legt die Vermutung nahe, beim Heiligkeitsgesetz handele es sich um einen „dem Deuteronomium  ähnliche und dessen Lücken ergänzenden Gesetzeskorpus“ ( Cholewinski, Heiligkeitsgesetze 338, zitiert nach Crüsemann 1997: S. 324). Mit dem Analogie-Argument sind die Belege für die Meinung, im Heiligkeitsgesetz handele es sich um eine Fortführung des Deuteronomiums, jedoch erschöpft. Es existieren keine weiteren Hinweise darauf, dass es sich um eine eigenständige Schrift handelt. Vielmehr spricht alles dafür, dass sich das Heiligkeitsgesetz in den Gesamtkontext der priesterlichen Schrift einordnet. „Alle entscheidenden Züge der Kapitel haben Entsprechungen im sonstigen priesterlichen Material und wirkliche Widersprüche lassen sich nicht aufzeigen“ (Crüsemann 1997: S. 324). Weiterhin ist das Heiligkeitsgesetz sowohl inhaltlich als auch formal, stark mit der gesamten Sinaigesetzgebung der priesterlichen Schicht verbunden.

Als Beleg für die Zugehörigkeit des Heiligkeitsgesetzes zur Gesamt-Priesterschrift kann besonders die Stimmigkeit angesehen werden, mit der sich seine Inhalte in die Struktur der Schrift einfügen. In der Priesterschrift wird thematisch zuerst „die Einrichtung des Zeltheiligtums [...behandelt] An deren Ende [steht] der Einzug der göttlichen Präsenz, [...es] folgt die Ordnung des Gottesdienstes, der an diesem Heiligtum zu halten ist [...], mit Opferregeln [...] und der Priestereinsetzung [...] an deren Ende die Schilderung der ersten Opferdarbringung steht“ (Crüsemann 1997: S. 325). Im folgenden Komplex werden Reinheit, Heiligtum und anschließend die Reinheitsgesetze behandelt. Darauf folgen die Heiligkeitsgesetze, an welche sich nur noch die Lagerordnung angliedert.

Crüsemann argumentiert daher, dass die Heiligkeitsgesetze aus dem geschilderten Aufbau unmöglich herauszulösen seien. Ihre relative Eigenständigkeit und Abgeschlossenheit erklärt er mit dem rechtlichen Charakter der Inhalte. Es werden Gesetze dargestellt, welche absichtlich eine herausgehobene Stellung in der Priesterschrift einnehmen, trotzdem aber in den Gesamtkontext einzuordnen sind. Ebenso eigenständig werden die Opfergesetze der Priesterschrift, die auch rechtlichen Charakter haben, dargestellt.

Die Entsprechung des Heiligkeitsgesetzes findet sich also nicht im Deuteronomium, sondern vielmehr außerhalb der Heiligkeitsgesetze, in anderen Teilen der Priesterschrift. Rechtliche Verfahrenregeln fehlen beispielsweise im Heiligkeitsgesetz gänzlich, da sie in anderen Teilen der Priesterschrift abgehandelt werden, ein Umstand, der gegen die Eigenständigkeit des Heiligkeitsgesetzes spricht. Crüsemann sieht es somit als erwiesen an, dass „die Priesterschrift im ganzen es ist, die in der Folge der Rechtsbücher dem Bundesbuch und dem Deuteronomium entspricht“ (Crüsemann 1997: S. 326).

 

b. Exilische Zukunftsplanung und priesterliche Urbilder

Obwohl über die genaue Entstehungszeit und die Verfasser der Priesterschrift natürlich nie beweisbare Klarheit herrschen kann, ist sich die Forschung in Bezug darauf erstaunlich einig. Keinesfalls kann die priesterliche Schrift vor der Zeit des Exils entstanden sein, da vielerorts das Exil vorrausgesetzt und darauf reagiert wird. An vielen Stellen werden nachweislich ältere Traditionen und Vorgängertexte weiterverarbeitet, umgestaltet und neu verfasst. Ob die Texte aber im Exil oder nach dem Exil verfasst wurden, ist schwer zu sagen. Nach Crüsemanns Ausführungen sind beide Möglichkeiten nicht auszuschließen. Es gibt viele Ähnlichkeiten mit bekanntermaßen exilischen Prophetentexten und ähnlichen theologischen Grundentscheidungen. Viele Texte deuten auf eine tempellose Zeit hin, andere dagegen lassen auf einen funktionierenden Kult mit Tempeln schließen. „Die Priesterschrift entstammt der Zeit, in der nicht mehr die Klage über das Verlorene und auch nicht mehr die Frage nach der Schuld die Szene beherrschte, sondern die nach Konsequenz und Neuanfang“ (Crüsemann 1997: S. 331).

Schon der Name „Priesterschrift“ lässt darauf schließen, dass sich die Forschung über den Verfasserkreis derselben relativ sicher ist. Es ist wohl nicht daran zu zweifeln, dass es exilisch-nachexilische Priestergruppen sind, denen die Verfassung der Texte zuzuschreiben ist, da „priesterliche Sicht, priesterliche Sprache, Interessen und Denkformen [...] überall am Werk“ (Crüsemann 1997: S. 331) sind.

Im Vergleich zwischen Deuteronomium und Priesterschrift lässt sich feststellen, dass in den priesterlichen Texten die politischen und sozialen Gesetze stark zurückgenommen werden (Crüsemann 1997: S. 332). Dies kann mit den sozialgeschichtlichen Umständen der Exilzeit erklärt werden, in der die „priesterlichen Kreise die Radikalität der deuteronomischen Sozialgesetzgebung, ja selbst die des Bundesbuches nicht fortführen“ (Crüsemann 1997: S. 332) wollten und sogar versuchten, diese zurückzunehmen. Trotzdem werden die wesentlichen Konzepte des Deuteronomiums auch in die Priesterschrift aufgenommen und verarbeitet. Kultisch-rituelle Gesetze, welche Reinheit und Heiligkeit betreffen, werden übernommen und weiterentwickelt.

Die Rücknahme der politisch-sozialen und die Dominanz der kultisch rituellen Gesetze der priesterlichen Texte im Vergleich zum Deuteronomium, ist ein Indiz für den Zerfallsprozess zwischen priesterlichen und nicht-priesterlichen Kreisen. Bis zum Exil haben die priesterlichen Kreise wohl „mit anderen im Jerusalemer Obergericht und in seinem Umkreis zusammengewirkt, [...] sich jetzt aus dieser (Zwangs-?)Koalition befreit und ihre eigene Tradition entfaltet“ (Crüsemann 1997: S. 333).

 

2. Die rechtsgeschichtliche Herausforderung des Exils

Die Priesterschrift muss als die Anpassung der israelischen Rechtstraditionen an die veränderten Anforderungen des Exils gesehen werden. Die priesterlichen Texte stellen somit das Grundgerüst dar, auf dem die Ausgestaltung der Tora in der nachexilischen Zeit (Crüsemann 1997: S. 333) aufbauen konnte. Was waren die veränderten rechtlichen/ rechtsgeschichtlichen Voraussetzungen, die eine Anpassung erforderlich machten?

Durch das Exil der Israeliten kommt es zu Zweifel an Gott und seiner Allmacht. Alle vorexilischen Rechtstexte sind an die Alleinverehrung des israelitischen Gottes gebunden. Durch das Exil war erstens die Allmacht Gottes in Frage gestellt und zweitens die Frage aufgeworfen, ob nicht gerade durch den Monotheismus Versäumnisse gegenüber andere Göttern und Göttinnen entstanden waren und erst dadurch die Katastrophe des Landverlustes möglich geworden war (Crüsemann 1997: S. 334). Neben dem zentralen Zweifel an der Richtigkeit des monotheistischen Glaubens, stellt Crüsemann sieben weitere Gründe dar, die eine Reform der Rechtsvorschriften notwendig machten.

1. Die vorexilischen Rechtsorganisationen bestehen nicht mehr. Da durch das Exil die Eigenstaatlichkeit verloren geht, hören auch die damit verbundenen Institutionen auf zu existieren. Der gesamte Beamtenapparat, welcher bisher die Organisation der Rechtsprechung inne hatte, ist nicht mehr vorhanden.

2. Das Land Juda ist in der Zeit des Exils Teil einer babylonischen Provinz, „in der die gesamte Verwaltung direkt oder indirekt den Besatzungstruppen untersteht“ (Crüsemann 1997: S. 334). Dies bedeutet natürlich auch, dass die babylonische Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung die von da an die Maßgebliche ist.

3. Das Deuteronomium setzt durch verfassungsmäßigen Charakter und Bestimmungen die Tora über König und Staat. Für die Besatzungsmacht ist diese Forderung eines für sie unbedeutenden Glaubens nicht bindend und das Volk Judäas ist dadurch in der schwierigen Situation, an einem Glauben festzuhalten, „dessen konstitutiv dazugehörende Tora-Tradition nicht praktiziert werden konnte“ (Crüsemann 1997: S. 335).

4. Das Subjekt der vorexilischen Rechtstexte ist der freie und vor allem grundbesitzende Israelit (Crüsemann 1997: S. 335). Da Israel sein Land verloren hat, besteht dieses Rechtssubjekt, also das Anwendungsgebiet der Rechtstexte, in der alten Form nicht mehr.

5. Die bisher gültigen Gesetze und Regeln hatten im Kern die Bewahrung der Freiheit des Volkes Israel, in welche sie Gott geführt hatte, eine Vorraussetzung, die bereits im Bundesbuch vorhanden ist. Die Freiheit war durch die Besatzer, genau wie der Landbesitz, aufgehoben.

6. Den Beginn der gesamten vorexilischen Rechtstexte bildet ein Altargesetz, also eine Vorschrift, die ein vorhandenes Heiligtum und einen funktionierenden Kult voraussetzt. Das, nach dem deuteronomischen Gesetz einzige legitime Heiligtum ist nicht mehr vorhanden und somit der „gesamten Konzeption der vorexilischen Rechtsbücher der Boden entzogen worden“ (Crüsemann 1997: S. 336).

7. Die Katastrophe des Exils kam als durch das Volk Israel selbst verschuldete. Sie kam, weil das Volk die Tora nicht beachtet hatte und wurde vom eigenen Gott mit allen Flüchen und Schrecken, welche in ihr formuliert sind, geschickt. Man kann also schließen, dass die vorexilische Rechtstradition „nicht nur unanwendbar und hinfällig [wurde], Israel war darüber hinaus gerade an ihr gescheitert“ (Crüsemann 1997: S. 336).

Crüsemann glaubt, das Sitten und Gebräuche, vor allem in politisch irrelevanten Bereichen natürlich auch weiterhin praktiziert wurden, doch die „lebensbestimmende Ausformung der Alleinverehrung [Gottes] [...] war außer Kraft oder in Frage gestellt“ (Crüsemann 1997: S. 336). Die Priesterschrift ist es, welche die Transformation des alten Rechts in eine weiterhin gültige Form vollbringt. Die wird erreicht durch:

1. Die Loslösung des Rechtswillen Gottes von Exodus, Landbesitz und Kult, wodurch die Grundlage für ein Diasporaleben (Crüsemann 1997: S. 337) geschaffen wird.

2. Der Exodus wird radikal neu interpretiert, wodurch ermöglicht wird, dass auch andere als landbesitzende Freie als Rechtssubjekte gelte können.

3. Sühne und Vergebung nehmen in der Priesterschrift eine zentrale Rolle ein und „integrieren so das Scheitern Israels an der Tora in die Tora“ (Crüsemann 1997: S. 337).

 

3. Rituale der Diaspora

Wie schon weiter oben dargestellt, ist ein Verdienst der Priesterschrift, ein Leben vor Gott und mit Gottes Willen, aber ohne funktionierenden Kult (Crüsemann 1997: S. 338) zu ermöglichen. Diese Möglichkeit ist natürlich für die exilische Zeit ohne Tempel von entscheidender Bedeutung, aber auch und vor allem für die jüdische Diaspora. Die Regeln der priesterliche Texte setzen keinen intakten Kult und keine heilige Stätte voraus, sondern fordern eine ganzheitliche, also fehlerlose menschliche Existenz als Vorraussetzung für ein Leben vor und mit Gott.

Folgend werden die wichtigsten Regeln der Priesterschrift dargestellt:

 

a. Todesrecht und Blutgenuss

Die erste Einheit von Regeln steht in Zusammenhang mit der Sintflut. Durch sie bestrafte Gott die aufkommende Gewalt in der Schöpfung. Nach dem ursprünglichen Willen Gottes, hätten dem Menschen ausschließlich Pflanzen als Nahrung dienen sollen, Tiere waren dafür nicht vorgesehen, daher existierten auch keine Regeln zu deren Schlachtung oder Verzehr. Gott bestraft mit der Sintflut die Gewalt der Menschen gegenüber den schutzlosen Tieren.

Nach der Sintflut wird eine neue Ordnung erlassen, in welcher der Mensch Herrscher über die Tiere ist und diese ihm als Nahrung dienen sollen. Es werden Regeln erlassen, die das Verhalten gegenüber den Tieren bestimmen und den Schrecken begrenzen.

Das menschliche Leben ist absolut geschützt. Blut als Essenz und Symbol des Lebens darf vom Menschen nicht vergossen und vom Tier nicht verzehrt werden, da dies Zugriff auf das Leben selbst bedeuten würde (Crüsemann 1997: S. 340).

 

b. Bund und Beschneidung

Die Priesterschrift spricht von zwei Bündnissen zwischen Gott und den Menschen. Das eine ist das allgemeine Bündnis aller Menschen mit ihrem Schöpfer. Das andere ist das der Nachkommen Abrahams, also aller Juden mit Gott. Bei beiden Bündnissen besteht nicht die Möglichkeit von Aufkündigung oder Scheitern, da in beiden Fällen eine verpflichtende und unverbrüchlichen Zusage Gottes (Crüsemann 1997: S. 342) besteht. Es handelt sich um einen ewigen Bund, der selbst durch das Versagen der Menschen nicht gelöst werden kann. Das Versprechen Gottes an Abraham und alle seine Nachfahren bezieht sich auf Vermehrung, Volkwerdung, Landbesitz, Staatenbildung und vor allem die, ihr Gott zu sein (Crüsemann 1997: S. 342). Als Zeichen des Bündnisses zwischen Gott und Abraham mit seinen Nachfahren, dient die Beschneidung Abrahams und all seiner männlichen Nachfahren.

 

c. Endogamie

Um in der Zeit des Exils das Volk Israel und dessen Religion zu erhalten, wurden die Vermischungsverbote der Tora-Tradition in der Priesterschrift verschärft. Die Endogamieregeln ergehen aber nicht als göttliche Vorschrift, sondern als ein Verbot Isaaks als Stammesführer. Zu erklären ist diese Tatsache wohl damit, dass viele Priester, also die Verfasser der Texte, verwandtschaftliche Beziehungen zu Nachbarvölkern besaßen.

 

d. Passa

Von den Geboten und Riten, die durch die Priesterschrift eingeführt wurden, also ohne Tempelkult praktiziert werden können, steht das Passafest dem eigentlichen Kult am nächsten. Crüsemann geht davon aus, dass es speziell für die Zeit des Exils und damit natürlich auch für jede weitere Generation in der Diaspora, als Hoffnungszeichen entwickelt wurde (Crüsemann 1997: S. 345). Für die Annahme, das Fest sei speziell für die Situation des Exils konzipiert worden, spricht beispielsweise, dass es familienweise gefeiert werden soll und es sich beim Passalamm ausdrücklich um kein Opfer handelt, da dies einen funktionierenden Kult erfordern würde.

 

e. Sabbat

Die Tradition des Sabbat, also des arbeitsfreien siebten Tages, ist zurückzuführen auf die Schöpfung, in der Gott am siebten Tag ruht und durch sein Nichtstun den Tag heiligt. In der Priesterschrift entdeckt das Volk Israel den Sabbat auf seinem Zug durch die Wüste. Beim sammeln der Nahrung nämlich, wird am Tag vor dem Sabbat immer doppelt soviel wie nötig gefunden und am Sabbat selbst nichts. „Mit dem Sabbatrhythmus [...] ist Israel der eigentlichen Gestalt Gottes so nahe, wie es eben ohne das Heiligtum möglich ist. [...] Wie Gott den Sabbattag durch sein Nichtstun heiligt, [...] so heiligt er in Zusammenhang mit dem Gebot des Sabbat Israel selbst“ (Crüsemann 1997: S. 349).

 

f. Zusammenfassung

Die dargestellten Rituale ermöglichen ein >>profane<< Teilhabe an Gott (Crüsemann 1997: S. 349) trotz der widrigen Umstände des Exils. In Exil und Diaspora ist zwar eine Lebensgestaltung nach israelischen Recht, also mit Gott unmöglich, trotzdem erlauben die Rituale ein Leben ohne Makel und Einschränkungen vor Gott. Möglich wird dieses israelitische Leben durch die Einhaltung und Durchführung der Riten wie Enthaltung des Blutgenusses, der Beschneidung und des Passafestes.

 

4. Heiligkeit als Gestalt der Freiheit

a. Der Exodus als Heiligung

Im Exodus führt Gott das Volk Israel aus Ägypten, er erwählt und heiligt es dadurch. In der Priesterschrift kommt im Vergleich zum Deuteronomium ein neues Deutungsmuster hinzu. Die Herausführung hat neben der Heiligung und Erwählung als Gottes Volk „das Wohnen Gottes in der Mitte Israels zum Ziel“ (Crüsemann 1997: S. 350).

Der Auszug der Israeliten aus Ägypten hat die Funktion der Heiligung durch Gott. Dieser Status des Heilig-Seins wird als zu erhaltendes Ideal angesehen. Ernährungsgebote und das Verbot, sich mit anderen Völkern zu vermischen, werden mit der Erhaltung der von Gott verliehenen Heiligkeit begründet. Mit der Herausführung aus Ägypten und der Hineinführung ins Land Kanaan geht nicht die Ablegung der ägyptischen und die Annahme der kanaanitischen Gebräuche und Sitten einher, „Israel ist – durch den Exodus – in einem Sonderstatus, von den anderen Völkern geschieden und allein auf die Gebote Gottes verpflichtet“ (Crüsemann 1997: S. 352).

Die beschriebene Heiligkeit des israelitischen Volkes ist also keine Eigenschaft, die vom Volk oder Priestern erworben werden könnte. Allein die Herausführung, das Aussondern und der Besitzanspruch Gottes auf Israel, heiligt das Volk und klärt seine Beziehung zu Gott. In den Implikationen der Heiligkeit Israels liegen die Unterschiede zwischen der vorexilischen und der priesterlichen Literatur. Das Heiligkeitsgesetz als Teil der Priesterschrift leitet aus der Heiligung des Volkes einzig die Nähe zu Gott ab, nicht wie die vorexilische Literatur den sozialen, rechtlichen, oder politischen Status Israels (Crüsemann 1997: S. 352). Gott selbst trennt Israel durch Exodus und Exil von den anderen Völkern und erklärt seinen Anspruch auf das Volk.

Die Nähe zu Gott durch den Exodus schafft eine Art der Freiheit, die vorher nicht existiert hat. Die Gottesbeziehung des Einzelnen hängt nicht mehr von Landbesitz und damit verbundenen Rechten ab, sondern ist unabhängig von Besitz und kann durch dessen Verlust nicht in Frage gestellt werden.

 

b. Heiligkeit als Rechtsprinzip

Trotzdem die Gesetze der Priesterschrift zum größten Teil das Verhalten im Kraftfeld der Präsenz des heiligen Gottes (Crüsemann 1997: S. 355) regeln, werden ebenfalls so gut wie alle deuteronomischen Gesetze behandelt. Kultische Regeln betreffend das Heiligtum, die Priesterschaft oder Opfervorschriften sind der Schwerpunkt der priesterlichen Texte und insbesondere des Heiligkeitsgesetzes, ebenso werden aber Vorschriften und Verbote zu Körperverletzung, Familie und Verschuldung behandelt.

Heilig im Verständnis der Priesterschrift definiert Crüsemann als Gott selbst, alles was natürlicherweise zu Gott gehört und alles was ihm vom Menschen geweiht und damit zugeordnet wurde (Crüsemann 1997: S. 356). Das Heiligtum wird durch die unmittelbare Gegenwart Gottes geheiligt, da Gott verkündet, dass er im Heiligtum unter den Israeliten leben wolle.

Das neue der priesterlichen Rechtstexte im Vergleich zu den vorexilischen besteht darin, dass sie von einem objektiv präsenten Gott ausgehen. Gott lebt im Heiligtum und beeinflusst direkt das Leben der Israeliten. Auch richtet sich das Gesetzt jetzt an alle Söhne Israels (Crüsemann 1997: S. 358) und nicht wie ehemals ausschließlich an die grundbesitzenden Freien. Die einzigen Gruppen zwischen denen noch unterschieden wird, sind Priester und normale Israeliten. Patriarchale Strukturen werden jedoch beibehalten und teilweise sogar verstärkt. Frauen ist die Nähe zu Gott nicht in gleicher Weise wie Männern gestattet. Allerdings existiert im späteren Jerusalemer Tempel ein getrennter Frauenhof, der den israelitischen Frauen eine eigen Nähe zu Gott, „angesiedelt zwischen den israelitischen Männern und den Heiden“ (Crüsemann 1997: S. 358) ermöglicht.

Der Geltungsbereich der Rechte und Pflichten der Priesterschrift ist praktisch ausschließlich bestimmt durch die Nähe zu Gott. Daher sind die Vorschriften durchaus auch für Nicht-Israeliten bindend. Im Kraftfeld Gottes sind Regeln einzuhalten, die objektiv gültig, und daher für alle Menschen welche sich in seinem Wirkungskreis aufhalten, verbindlich sind.

 

5. Leben mit der Schuld – Sühne und Vergebung

Das Leben mit dem unmittelbar anwesenden Gott, wie es die priesterlichen Texte darstellen, ist nur möglich, wenn die unumgänglichen, alltäglichen menschlichen Verfehlungen immer wieder gesühnt und vergeben werden. Die immerwährende Bereitschaft Gottes zur Aufhebung der Schuld steht daher im Zentrum der priesterlichen Kultgesetze. Diese permanente Vergebungsbereitschaft ist institutionalisiert in einem Sühnmal (Crüsemann 1997: S. 360), welches sich im Inneren des Heiligtums befindet. Über dieses Sühnmal kommuniziert Gott mit seinem Volk.

Grundlegend unterschieden werden muss aber zwischen der Sühne der Gemeinde oder des gesamten Volkes und der Sühne des einzelnen Menschen.

 

a. Sündopfer und Versöhnungstag – das entschuldete Volk

Aus priesterlicher Sicht waren es wohl die langanhaltenden Anhäufungen der Schuld (Crüsemann 1997: S. 361), welche für die Katastrophe des Exils ausschlaggebend waren. Crüsemann schließt dies beispielsweise aus Formulierungen, dass das verunreinigte Land seine Bewohner ausspeien werde (Crüsemann 1997: S. 361). Um in der Zeit nach dem Exil solche Bestrafungen unnötig zu machen, stellt Gott die Opferung von Tieren als Sühnemittel zu Verfügung. Das Blut und damit das Leben des Tieres wird Gott dargebracht, welcher daraufhin die Sünden vergibt.

Die dauerhafte Existenz Israels in Anwesenheit Gottes wird, trotz der unumgänglichen und alltäglichen menschlichen Vergehen, durch den jährlichen Versöhnungstag garantiert. Die Opferung und der Ritus des Versöhnungstages gewährleisten, dass wirklich alle Sünden und Unreinheiten von der ganzen Gemeinde Israels (Crüsemann 1997: S. 365) abfallen und vergeben werden.

 

 

b. Zwischen Austilgung und Vergebung – das schuldige Individuum

Bei der Vergebung der Schuld des gesamten Volkes ist die priesterliche Sühnetheologie klar und verständlich. Wie jedoch die Vergebung und Sühne der Schuld des einzelnen Menschen geregelt ist, bleibt unklar und teilweise sogar widerspruchsvoll (Crüsemann 1997: S. 365).

Unbeabsichtigte Übertretungen der Regeln können durch ein Sündopfer (Crüsemann 1997: S. 365), also der Darbringung einer Ziege, eines Schafes oder eines Vogel- oder Mehlopfers gesühnt werden. Unabsichtliche Sünden sind beispielsweise das Berühren unreiner Gegenstände, Tiere oder Menschen oder ein unbedachter Schwur. Sünden gegenüber Gott, die mit erhobener Hand (Crüsemann 1997: S. 366), also absichtlich begangen werden, sind nicht durch ein Sündopfer zu verzeihen. Eine vorsätzliche Sünde eines Einzelnen gegen Gott führt zum Herausschneiden (Crüsemann 1997: S. 366) des Individuums aus dem Volk Israel, scheinen also unentschuldbar zu sein. Absichtliche Sünden Einzelner gegenüber anderen Menschen, wie Diebstahl, können durch ein Opfer verziehen werden. In diesem Fall geht das Opfer als eine Art der Entschädigung an den Geschädigten und nicht an Gott bzw. die Priester.

Verziehen werden können also „unbeabsichtigte sakrale Vergehen, sowie durchaus nicht unabsichtliche Fälle von Eigentumsdelikten, wenn eine entsprechende Rückgabe sowie eine Entschädigung des Opfers möglich ist und vorangeht“ (Crüsemann 1997: S. 368). Im Gegensatz dazu werden schwere, absichtliche Vergehen gegen die Gebote Gottes nicht verziehen. Auf diese folgt das Herausschneiden aus Volk und Familie und es spricht nichts dafür, dass auch diese Schuld irgendwie gesühnt und verziehen werden könnte.

 

 

c. Schuldbewusstsein – die Eröffnung der Innerlichkeit

Eine permanente Vergebungsbereitschaft Gottes, wie man sie aus der christlichen Tradition kennt, die dem Individuum auch bei den größten Vergehen ständig die Möglichkeit der Beichte, Sühne und damit Vergebung bietet, war in der Priesterschrift noch nicht vorhanden. Crüsemann unterstellt, dass eine weitreichende Reflexion über die subjektiven Umstände einer Tat, das Schuldbewusstsein, in den priesterlichen Texten ganz einfach noch nicht vorhanden war (Crüsemann 1997: S. 373). Durch die Unterscheidung zwischen vorsätzlichen und unbeabsichtigten Sünden, wird aber der „Grund gelegt für weitreichende und bis heute nicht abgeschlossene Reflexionen auf das Schuldbewusstsein und auf die Frage, was Schuld eigentlich ist“ (Crüsemann 1997: S. 373).

Die Frage danach, wann eine Tat wirklich bewusst und absichtlich geschieht und wann nicht, muss fast zwangsläufig zu einer Definition verschiedener Bewusstseinsstufen geführt haben. Crüsemann stellt die Frage, ob angesichts des Sichtbarwerdens der Folgen einer Tat, bzw. der Strafe, diese wirklich jemals gewollt war (Crüsemann 1997: S. 373). Angesichts des tödlichen Herausgeschnitten werden aus der Gemeinschaft (Crüsemann 1997: S. 373) dürfte wohl jede Übertretung im Bewusstsein des Täters zu einer unabsichtlichen Tat in Bezug auf die Folgen werden. Die Verhängung der Todesstrafe wird hierdurch fast unmöglich, da sie in der rabbinischen Tradition ein wirkliches Wissen um die Folgen der Tat und um die Strafe voraussetzt.

„Wenn jemand ein positives Gebot übertritt und bereut, wird ihm auf der Stelle vergeben. Wenn jemand ein Verbot übertritt und bereut, so suspendiert die Reue die Bestrafung, und der Tag der Versöhnung bewirkt Sühne. Wenn einer eine Sünde begangen hat, die mit Ausrottung oder Tod durch das Gericht bestraft werden muß, und er sie bereut, dann setzt die Reue und der Tag der Versöhnung die Strafe aus, und das Leid vollendet die Sühne“ (Crüsemann 1997: S. 374).

 

6. Die Nächstenliebe und ihr Kontext – eine Zusammenfassung

Das Wort Liebe kann im Kontext der Priesterschrift unterschiedliche Bedeutungen haben. Es bezeichnet nie nur das innere Gefühl, sondern immer das gefühlsmäßig bestimmte Handeln. Beispielsweise wird Liebe in Verträgen erwähnt und ist dort gleichzusetzen mit Loyalität, seine Verwendung in Bezug auf Männer bzw. Frauen und Kinder ist als liebevolles Helfen zu verstehen, dem Nächsten Gutes zu tun (Crüsemann 1997: S. 377).

 

 

VIII. Der Pentateuch als Tora – der Weg als Teil des Ziels

1. Der Pentateuch als Produkt der persischen Zeit

a. Literarische Voraussetzungen und begriffliche Selbstbezeichnung

Im Pentateuch stehen mehrere, geschichtlich aufeinander folgende Rechtskorpora als Teile des einen Gesetzes des Mose (Crüsemann 1997: S. 381) nebeneinander. Jeder Teil wollte den vorhergehenden kritisieren, verbessern und ersetzen. Trotzdem werden die einzelnen Teile zu einen Ganzen zusammengefügt und bilden dadurch gerade die Tora welche die Basis der gesamten weiteren jüdischen Rechtsgeschichte bildet. Es scheint geradezu ein Prinzip der Pentateuchkomposition zu sein, dass Wiederholungen und Widersprüche massivster Art offen und unverdeckt nebeneinander stehen (Crüsemann 1997: S. 382).

Crüsemann bezeichnet es als entscheidend, zu erkennen, dass die Gesamtgestalt des Pentateuch und seine Endredaktion deutlich von der Priesterschrift zu unterscheiden ist (Crüsemann 1997: S. 382).

Das Deuteronomium ist zwar von der Priesterschrift umschlossen und auf irgendeine Weise  in sie integriert, jedoch stehen die beiden wichtigen Teile nebeneinander und die innere Spannung zwischen ihnen macht maßgeblich das Wesen des Pentateuch aus (Crüsemann 1997: S. 382). Diese innere Spannung im Riesenwerk der Tora ist zurückzuführen auf Auseinandersetzungen zwischen priesterlichen und deutoronomistischen Gruppen in der Entstehungszeit der Tora.

 

b. Der zeitliche und historische Rahmen

Wann ist der Pentateuch in seiner heutigen Form entstanden? Crüsemann geht davon aus, dass langanhaltende literarische Vorgänge die priesterlichen Texte hervorgebracht haben und dass das Nebeneinander von priesterlichen und deutoronomistischen Schichten ebenso eine längere Zeitspanne in Anspruch genommen hat (Crüsemann 1997: S. 385). Der Pentateuch muss in der persischen Periode, also zwischen dem Exil und dem Beginn der hellenistischen Zeit entstanden sein, da ein Werk in der Größenordnung des Pentateuch in der Exilzeit noch nicht bestanden haben konnte. Im Geschichtsteil des Deuteronomiums bestehen zwar Bezüge zur Flucht, jedoch ist schon bei der Priesterschrift sicher, dass sie in der nachexilischen Zeit entstanden ist.

Schwer zu bestimmen ist der Zeitpunkt, an dem die Arbeit am Pentateuch abgeschlossen war. Crüsemann führt zur Klärung dieser Frage an, dass im gesamten Pentateuch keine Bezüge oder Auseinandersetzungen mit dem Hellenismus zu finden sind, und daher davon auszugehen ist, dass er zu Beginn der hellenistischen Zeit, also im letzten Drittel des vierten Jahrhunderts bereits abgeschlossen war.

 

c. Das Esragesetz und die Reichsautorisation

Die Bedeutung der Person des Esra ist in der Forschung schon länger umstritten. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Esragesetz und Pentateuch ist jedoch eine sehr wichtige in Bezug auf die Entstehung des Tora.

Verbunden wird mit Esra vor allem, dass er vom persischen Großkönig beauftragt wurde, „mit einer Gruppe von Exulanten nach Jerusalem zu ziehen und dort »eine Untersuchung anzustellen, über Juda und Jerusalem gemäß dem Gesetz deines Gottes, das in deiner Hand ist«“ (Crüsemann 1997: S. 388). Fraglich ist, ob der König Esra tatsächlich damit beauftragt hat, oder ob der Chronist Esras Handeln in seinen Aufzeichnungen quasi nachträglich legitimierte. Praktisch sicher ist aber, dass der Pentateuch zum Ende des fünften bzw. Anfang des vierten Jahrhunderts abgeschlossen vorlag und von Babylon nach Jerusalem gelangte. Ob dies nun durch Esra geschah und ob tatsächlich die königliche Erlaubnis dafür vorlag, kann nicht mit Gewissheit behauptet werden (Crüsemann 1997: S. 389). Wie immer das Esragesetz auch ausgesehen haben mag und wie groß die Ähnlichkeit zum Pentateuch auch immer war, bis zum Ende der persischen Periode ist aus dem Esragesetz das geworden, was man heute als Pentateuch kennt (Crüsemann 1997: S. 393).

 

2. Der Pentateuch im politisch-sozialen Kräftefeld – Trägergruppen und Tendenzen

Um das soziale Umfeld zu klären, in dem der Pentateuch entstanden ist, steht eine ausgesprochen zuverlässige Quelle zu Verfügung: die Denkschrift Nehemias. In ihr spiegelt sich die historische Grundkonstellation wieder.

 

a. Überschuldete und Priester – die soziale Konstellation

In der sozialen Struktur der kleinen Provinz Juda können vor allem zwei Grundkonflikte beobachtet werden: Erstens der zwischen überschuldeten Kleinbauern und deren reichen Gläubigern, und zweitens Auseinandersetzungen zwischen Laien aus der bäuerlichen Bevölkerung und dem Kultpersonal von Priestern und Leviten aus dem Jerusalemer Tempel. Der Konflikt zwischen Laien und Kultpersonal bezieht sich hauptsächlich auf die Abgabe des Zehnten, welcher auf der einen Seite notwendig war, um den gesamten Tempelkult zu unterhalten, auf der anderen Seite aber die äußerst ärmliche Provinz an die Grenze des Leistbaren brachte (Crüsemann 1997: S. 394).

Der Pentateuch hat in Bezug auf diese Grundkonflikte eine eindeutige Tendenz: Regelmäßige Zehntenabgaben an Priester und Laien werden genauso verpflichtend für alle Israeliten gemacht wie Zinsverbot, regelmäßiger Schuldenerlass, Sklavenfreilassung und Schutz für alle sozial Schwachen.

Nach Crüsemann ist die Denkschrift Nehemias der älteste Text außerhalb des Pentateuch, aus dem gefolgert werden kann, dass alle großen Rechtstexte zusammen das göttliche Gesetz bilden (Crüsemann 1997: S. 396). Im Text Nehemias werden Vorschriften aus dem Bundesbuch, dem Deuteronomium und der Priesterschrift, also aus allen drei großen Kodizes des Pentateuch kombiniert und nebeneinander verwendet. Außerdem sind in den Texten Nehemias Anfänge der Legalinterpretation zu finden, welche den methodischen Ansätzen späterer rabbinischer Auslegung entspricht und die eigentliche Gesetzesnorm teilweise durch ihre praktische Umsetzung ersetzt.

Mit der Entstehung des Pentateuch ist gleichzeitig die Notwendigkeit seiner Interpretation entstanden. Die Tatsache, dass unterschiedliche, nicht aufeinander abgestimmt Teile die Gesamtheit des Pentateuch bilden, macht eine Auslegung und Übersetzung der Gesetze in die Praxis des Alltags unumgänglich.

 

b. Judäa und die Diaspora – die Einheit des Volkes

Spätestens seit dem Beginn des babylonischen Exils lebt das Volk Israel verstreut. Selbst  das Ende des Exils mit einem wieder gefestigten Kult hat das Volk nicht mehr zu einem geschlossenen Siedlungsverband zurückgebracht. Gerade die weltweite Diaspora aber hat dem Pentateuch zu seiner Geltung verholfen, da er „eine Existenz mit und vor Gott auch ohne Rechtshoheit und ohne die Möglichkeit eines Kultes eröffnet“ (Crüsemann 1997: S. 398).

 

c. Die persische Herrschaft – die Differenz zur Prophetie

Die Provinz Juda ist unter der persischen Oberherrschaft mit relativ großen Autonomierechten ausgestattet. Dies zeugt zwar von einer großen Toleranz des persischen Großkönigs, kann aber auch dahingehend gedeutet werde, dass hierdurch eine Stabilisierung und Beruhigung der Region erreicht werden sollte. Die Autonomie endet an der Stelle, an der persische Interessen berührt werden. Diese Aufteilung der Machtsphären scheint der Pentateuch als gegeben hinzunehmen da er nichts enthält, was als eine Gefährdung der persischen Machtansprüche verstanden werden könnte (Crüsemann 1997: S. 403).

 

d. Die Nachbarprovinzen – die offene Verheißung

Nehemia und eventuell auch Esra wirkten als eine Art Gouverneure der Provinz Juda. Diese in der Nord-Süd-Erstreckung nur etwa 50km große Provinz war umgeben von ihr feindlich gesonnenen Nachbarprovinzen, mit welchen Konflikte bis an den Rand militärischer Auseinandersetzungen bestanden und geführt wurden.

Das Gebiet, welches dem Volk Israel von Gott verheißen und gegeben wurde, umfasst jedoch ein wesentlich größeres Gebiet als die besagten 50km. Durch die Aufrechterhaltung der Konflikte mit den Nachbarprovinzen war es zur Zeit Esras wohl auch möglich, den Anspruch auf die verheißenen Gebiete aufrechtzuerhalten.

 

3. Aspekte de Komposition und der Theologie

a. Ein persisches Reichsprinzip als Hintergrund?

Die Frage nach dem inneren theologischen Sinn des Pentateuch muss sich auf einige wenige besonders wichtige Züge der Schrift beschränken. Nach Crüsemann gehören zu diesen herausragenden Eigenarten beispielsweise das Nebeneinander von Erzählung und Gesetz, vor allem aber das Nebeneinander unterschiedlicher und einander widersprechender Texte. Warum lässt die Tora die älteren Rechtskodizes derart unausgeglichen nebeneinander stehen, obwohl es nur geringer Anstrengungen bedurft hätte, sie in ein einigermaßen kohärentes Werk umzuarbeiten? Jeder neuere Rechtstext hat Anregungen der vorhergehenden aufgegriffen und zu einer relativ homogenen Einheit verarbeitet. Wieso wurde in der Gesamt-Tora nicht genauso verfahren? „Warum wurde statt dessen ein additives Prinzip gewählt, das zu so vielen Wiederholungen und so offenen Gegensätzen führte?“ (Crüsemann 1997: S. 405) Als ein Grund, der natürlich auch wieder mit der Frage nach dem „warum“ ausgehebelt werden kann, muss angeführt werden, dass die Tora als Gottes Wort im Ganzen sakrosankt und heilig ist, Gottes Worte sind vom Menschen nicht änderbar oder anzuzweifeln.

Des weiteren entspricht die Vorgehensweise aber auch dem persischem Rechtsprinzip der Zeit. „Was einmal schriftlich ergangen ist, gelte auf Dauer“ (Crüsemann 1997: S. 406). Neben das ältere Recht kann zwar neues treten, was dem älteren sogar offen widersprechen mag, trotzdem steht Altes ohne formale Aufhebung neben Neuem.

 

b. »Gott soll mit uns reden« – die Rolle des Dekalogs

Nach Crüsemann spielt der Dekalog in der Komposition des Pentateuch eine enorm wichtige Rolle (Crüsemann 1997: S. 407). Der große Unterschied zu allen anderen Texten ist der, dass im Dekalog Gott direkt und nicht über einen Mittler wie Mose, zum Volk Israel spricht. Das Volk kann jedoch die direkte Ansprache Gottes nicht ertragen, weshalb Mose als Mittler zwischen Gott und den Menschen eingesetzt wird. Die direkte Gottesrede schafft also erst die Notwendigkeit einer Vermittlerposition.

Nach Crüsemann liegt der Unterschied zwischen Dekalog und allen folgenden Texten „einzig und allein in der Direktheit der Gottesrede. [Der Unterschied] liegt im Modus, nicht im Inhalt“ (Crüsemann 1997: S. 411). Inhaltlich gibt es für die Dekaloggesetze Entsprechungen in anderen Teilen der Tora, das Kommunikationsproblem zwischen Gott und seinem Volk macht die Sonderstellung des Textes aus. Das Volk wünscht den Abbruch der direkten Rede Gottes und lässt Mose die Mittlerstellung für weitere Gebote Gottes übernehmen. Von da an ergehen die Gesetze von Gott an Mose und erst durch ihn, später an das Volk.

Besonders wichtig ist die Implikation welche die indirekte Vermittlung der Gebote Gottes mit sich bringt: alle Gesetze werden gleichrangig, keines hat einen Vorteil vor dem anderen. Durch die Mittlerfunktion Moses wird „die prinzipielle, die theologische und sachliche Gleichrangigkeit aller Gesetze die gemeinsam den Pentateuch bilden“ (Crüsemann 1997: S. 413) erreicht. Man kann den Dekalog also als eine Art Gleichrichter für die unterschiedlichen Rechtskorpora der Tora verstehen.

 

c. »Die ganze Gemeinde ist heilig« – der offene Konflikt

Das riesige Werk des Pentateuch mit seinen verschiedenen und unter stark unterschiedlichen Einflüssen entstandenen Teilen ist von einer Vielzahl Gegensätzen und Widersprüchen durchzogen. Viele dieser Widersprüche stammen aus unterschiedlichen Traditionen und zerstören nicht etwa die Einheit der Texte, sondern schaffen vielmehr eine vielschichtigeres Bild als es ein widerspruchsfreier Text könnte. Die Interpretationsgeschichte der Tora zeigt, dass die meisten konkurrierenden Bestimmungen ganz einfach durch ihre Addition beseitigt werden können. Zu betrachten sind daher besonders die Fälle, in denen dieser Ausgleich nicht gelingt, ja vielleicht gar nicht versucht wird. Der wohl wichtigste Streit zwischen den beiden theologischen Richtungen, welche den Pentateuch gemeinsam gestaltet haben, ist der um das Verständnis der Heiligkeit des Volkes bzw. um die Vorrechte der Priesterschaft. „Hier gibt es keinerlei Konsens, genauer: der Konsens besteht offenkundig darin, auch nicht den Versuch einer Überdeckung der Gegensätze zu machen“ (Crüsemann 1997: S. 414).

In der deuteronomistischen Sichtweise macht die Heiligkeit des ganzen Volkes Israel, die Existenz von Priestern nicht nur unnötig, sie lässt sogar den Sonderstatus von Mose nicht zu. „Die Nähe Gottes zu allen Israeliten [ist] mit Privilegien und Gruppen besonderer Heiligkeit nicht zu vereinbaren“ (Crüsemann 1997: S. 415). Das Deuteronomium setzt Priester und Leviten ausdrücklich gleich und unterstellt sie vor allem der Kontrolle des Volkes und seiner Repräsentanten. Man kann sogar soweit gehen, zu sagen, dass nach dem Verständnis des Deuteronomiums der Bund mit Gott, Israel zu einem Königreich von Priestern gemacht hat und das gesamte Volk den Priesterstatus genießt.

Auch nach den priesterlichen Texten ist das ganze Volk geheiligt, kann sich erst dadurch überhaupt in der Nähe Gottes aufhalten. Trotzdem schließt die allgemeine Heiligkeit des Volkes nach diesem Verständnis eine spezielle Heiligkeit von Priestern und Leviten keinesfalls aus, vielmehr ermöglichen Aaron und seine priesterlichen Nachkommen erst das Leben Israels als geheiligtes Gottesvolk, da die Priester die Probleme der unmittelbaren Gottesnähe wahrnehmen und so vom Volk fernhalten (Crüsemann 1997: S. 416).

Die Gegensätze dieses Konfliktes durchziehen eine Reihe von Texten. Sie sind wohl deshalb so deutlich zu erkennen, da ein Kompromiss in der Frage nicht zu finden oder nicht denkbar war. Trotzdem ist anzumerken, dass die beiden Gruppen, welche den Pentateuch gemeinsam maßgeblich formten, die Anhänger des Deuteronomiums und die der Priesterschrift, offenbar soviel an Gemeinsamkeiten besaßen, dass selbst starke Gegensätze sie nicht trennen konnten (Crüsemann 1997: S. 418f).

 

d. »Und weiter durch die Generationen« – Weisung auf dem Weg in die Zukunft

Das Volk Israel hält sich zwei Jahre am Sinai auf und zieht von dort schließlich in das versprochene Land. Am Sinai hat Israel durch Mose als Vermittler sämtliche Gesetze erhalten, alles Recht stammt von diesem Platz (Crüsemann 1997: S. 419). Als das Volk nun aufgebrochen ist, teilt Gott Mose weitere Gesetze mit, als würden sie sich noch am Sinai aufhalten. Diese Art der Mitteilung lässt sich nur schwer mit zentralen priesterlichen Vorstellungen verbinden, nach denen Gott nämlich ausschließlich aus dem Allerheiligsten mit seinem Volk kommuniziert.

Der Sinn der nach-sinaitischen Gesetze liegt in den sozialen Umständen der Situation: Schon kurz nach dem Weggang vom Sinai entstehen Probleme, wie der Wunsch nach Fleisch oder Rückkehr nach Ägypten. Die Offenbarungen, welche auf dem Zug des Volkes durch die Wüste ergehen, sind dazu da, die schon erhaltenen Gebote an die jeweilige Situation anzupassen und Probleme zu lösen. Auf dem Weg Israels vom Sinai in das gelobte Land empfängt Mose immer dann eine neue Offenbarung, wenn das Volk sie benötigt bzw. wenn Probleme bestehen.

 

4. Die Einheit Gottes und die der Tora – zum Ansatzpunkt einer christlichen Tora-Rezeption

In seiner Schlussbemerkung hält Crüsemann fest, dass „allein die Tora die Grundlage einer biblisch orientierten christliche Ethik sein kann“ (Crüsemann 1997: S. 425). Allerdings ist die Tora nicht für die Menschheit und nicht für den christlichen Glauben entstanden, sondern für Israel. Die Tora und das darin enthaltene Wort Gottes ist unauflöslich mit dem israelitischen Volk verbunden und kein anderes, auch nicht die christliche Gemeinschaft, kann an ihre Stelle gesetzt werden. „Das damit gegebene Dilemma kann seine Lösung nur in einer christlichen Torarezeption finden, die sich auf die, nicht für die Kirche, sondern für Israel formulierte Tora einlässt, also die Einheit von Gott, Tora und Israel zu der Grundlage macht, von der alle konkrete Auslegung ausgeht“ (Crüsemann 1997: S. 425).