Rechtsgeschichte

 

 

                        Hebräische Bibel

                       

 

Rudi-Karl Pahnke  2002

 

Die hebräische Bibel – Tora[1] / Tanach[2]

 

1. „Sie werden lachen, die Bibel“

 

Bertolt Brecht soll auf die Frage geantwortet haben, was sein Lieblingsbuch sei:

„Sie werden lachen, die Bibel“[3]

Viele Menschen in unserer Zeit, die die Bibel  irgendwann zu lesen begannen, können kaum glauben, dass Brecht diese Aussage ernst gemeint habe. Doch er hat es so gemeint. Man findet eine Fülle von biblischen Anspielungen in seinem Werk. Die Bibel war nicht nur sein Lieblingsbuch,  sondern er kannte sie auch.

Eine große Zahl der Menschen in unserem Land indes, die der Religion seit sehr vielen Jahren oder sogar Generationen aus unterschiedlich religionskritischen, weltanschaulichen oder politischen Gründen entfremdet sind, haben oft oder sogar zumeist keinen positiven Bezug zu jenem Buch, das man Bibel nennt.  Sie haben oder suchen deshalb auch weder Veranlassung noch  Möglichkeit, die Tiefe und den Reichtum, das Spannende, die Weisheit oder das Dramatische dieses Buches zu entdecken.

Für viele Menschen ist die Bibel einfach langweilig. Es wurden in der Vergangenheit  auch kaum im ausreichenden Maße  herausfordernde Hilfestellungen angeboten, die Schilderungen, Worte  und Texte zu begreifen. Manch einer begann vielleicht sogar einst zu lesen – und hat die Bibel spätestens beim dritten Mosebuch  wieder aus der Hand gelegt.  

Damit haben sie jedoch eine Quelle unserer Kultur, unserer Wurzeln aus ihrer Hand gelegt.

Denn man versteht eine Reihe gewichtiger Probleme der Gegenwart nicht angemessen, wenn man nicht die Frage der Wurzeln unserer Kultur  in die eigenen Überlegungen mit einbezieht.

 

2.  Was die hebräische Bibel nicht ist... – Voraussetzungen und Zugänge 

 

2.1 Die Bibel ist nur dann ein langweiliges Buch, wenn man sie mit unangemessenen Erwartungen zu lesen beginnt. Wer z.B. einen Kriminalroman im Stil von Agatha Christie erwartet, wird enttäuscht werden. Wer Karl May oder Astrid Lindgren, wer  Harry Potter  oder ein wissenschaftliches Buch über die Entwicklung der Menschheit erwartet, wird das Buch irgendwann frustriert aus der Hand legen - obwohl die Bibel sehr spannende Kriminalstorries enthält, obwohl sie Schilderungen enthält, die den Büchern  Karl May’s gewiss nicht nur standhalten, obwohl sie Geschichten erzählt, die in ihrer Fantastik Astrid Lindgren oder Harry Potter nicht nachstehen.

Auch wer wissenschaftliche Fragen bezüglich der Entwicklung der Menschheit, der Stufen der Entwicklung eines rationalen Weltbildes der Menschheit oder der Entwicklung des Rechts und Rechtssystems, eines gerechten Gesellschaftssystems  etc. hat, wird in der Bibel Weichenstellungen und Positionen entdecken, die unmittelbar unsere Zeit und Probleme betreffen und unseren Fragen herausfordernd standhalten. 

2.2  Die Bibel ist kein Geschichtsbuch im Sinne moderner Geschichtsforschung – aber  

sie enthält und reflektiert von der ersten bis zur letzten Seite Geschichte, Historie – und sie ist in diesem besonderen Sinn durchaus auch ein Geschichtsbuch besonderer Art.

2.3 Die Bibel ist natürlich (wie selbstverständlich die Basisbücher auch aller anderen Schriftreligionen !) nicht vom Himmel gefallen, sie ist weder von Gott oder einem Engel Gottes persönlich diktiert, sie ist weder verbal noch personal, noch real von Gott inspiriert  - aber der sich weltanschaulich nicht  verschließende Mensch wird Weisheiten entdecken und Einsichten gewinnen, die ihn in die Nähe des sich in diesen Schriften aussprechenden Glaubens bringen und ihm die darin enthaltenden  Lebens- und Glaubensfragen so stellen, dass er sich ihren Fragen nicht entziehen kann.   

Das bedeutet: Die Bibel ist von der ersten bis zur letzten Seite, vom ersten bis zum letzten Buchstaben Menschenwort,  von Menschen geschrieben und von Menschen zu verantworten und so auch zu befragen,  aber in ihr begegnen wir  Menschen, die tiefe Erfahrungen mitteilen, ihren Glauben artikulieren, zum Glauben einladen, einen falschen Glauben oder eine katastrophale Lebenspraxis scharf angreifen, Verzweiflung herausschreien und voller Gewissheit Hoffnung  erwecken wollen.

Auch wo uns das Selbstverständnis in den religiösen Schriften begegnet, dass diese oder jene Worte oder diese oder jene Schriften direkt von Gott selbst stammen, stammen sie doch immer von Menschen, deren sich so artikulierendes Selbst-, Lebens- und Glaubensverständnis wir befragen können und zu befragen haben. Dieses ist unser Erbe der Aufklärung und der Religionskritik, hinter das wir weder zurück wollen noch dürfen, noch können.

„Die Bibel als ein von Menschen verfasstes Buch kann und darf der wissenschaftlichen und literarischen Kritik nicht entzogen werden. Sonst würde nämlich der religiöse Mensch sich gebärden, als ob er etwas zu verheimlichen hätte.“ [4]

2.4   Andererseits aber gilt : Wir können die Bibel nicht verstehen, wenn wir nicht akzeptieren,

dass sich in ihr der Glaube an Gott auf die unterschiedlichste Weise ausdrückt, sich Sprache verschafft und geschichtsmächtig wird.

2.5   Jedoch gehört der Glaube an Gott ganz und gar nicht zu den Voraussetzungen, die Bibel zu lesen und zu verstehen. Es ist durchaus sehr sinnvoll, die Bibel atheistisch-offen zu lesen. Offenheit indes bedeutet, dass wir als Menschen akzeptieren, dass wir neue Einsichten gewinnen könnten, die in uns Lebensentscheidungen  wachsen und reifen lassen, die wir vor der Lektüre und den daraus erwachsenen Fragen noch nicht einmal ahnten.

 

3. Der Reichtum des Buches der Bücher

 

3.1  Die sorgfältige Überlieferung

Die Bibel heißt zu Recht Buch der Bücher. Eine elementare Voraussetzung für die Existenz der Bibel und die biblische Überlieferung ist die Fähigkeit zu schreiben. D.h. die Entwicklung der Schrift liegt vor der Überlieferung der Bibel. Man kann heute die Geschichte der Entstehung und der Entwicklung der Schrift genau nachvollziehen – von den Keilschriften in Mesopotamien zu der Schrift der Phönizer und der althebräischen Schrift. Denn die hebräische Bibel ist in der althebräischen Schrift verfasst – bis auf einige wenige Stücke in Aramäisch. Die aramäische Sprache wurde  nach dem Beginn der persischen Vorherrschaft im 6. Jahrhundert v. Chr. die offizielle Amtsprache  und breitete sich dann auch entsprechend aus.  

Die Bibel ist eine Sammlung von Schriften aus unterschiedlichster Zeit und aus unterschiedlichsten Situationen. Wenn wir die Zeitumstände nicht erkennen können, auf jede die eine oder andere Schrift bezogen ist, ist es mitunter sehr schwierig, den   Sinn des Textes zu deuten.

Aber meistens kennen wir die Umstände und die Situationen, aus denen die Texte stammen, auf die sie bezogen sind. Die wissenschaftlichen Bibelausleger ( Exegeten) haben seit jeher, aber besonders seit der Aufklärungszeit, die Zeitumstände, die Umwelt, die Hintergründe und Situationen in der Bibelauslegung (Exegese) genau beachtet und herausgearbeitet.

Heute gibt es sehr differenzierte Methoden, einen Text jeweils aus seinem eigenen Milieu und seiner eigenen Zeit heraus zu verstehen: philologische, literar-historische, zeitgeschichtliche, soziologische Methoden.

Wir kennen viele Überlieferungen und Schriften aus alter Zeit – ja, es gibt ganze Bibliotheken z.T. noch nicht einmal übersetzter Texte aus jenem Kulturkreis, aus dem vorderen Orient, aber wir kennen keine in dieser Weise in sich geschlossene, andererseits so in sich unterschiedliche Sammlungen von Schriften wie die biblischen Texte, die über Jahrtausende gesammelt, überliefert, abgeschrieben, sorgfältig aufbewahrt wurden.

Lange Zeit konnte man skeptische Theorien darüber anstellen, wie der  Text der Bibel sich in den vielen Jahrhunderten verändert hat oder verändert wurde, weil es nur jene gesicherten Textüberlieferungen, bzw. Abschriften gab, die erst Jahrhunderte nach der christlichen Zeitrechnung entstanden sind. Die Texte davor waren schlicht nicht mehr vorhanden.

Dann aber gab es eine revolutionierende Entdeckung.      

Beduinen fanden 1947/48  in den Höhlen von Qumran am Toten Meer Schriften von einer vorchristlichen Gruppe ( Essener), die im  2. Jahrhundert vor Jesu Existenz entstand und auch zu seiner Zeit bestand. Diese Gemeinde von Qumran hatte sich aus Protest gegen die offizielle jüdische Religion in die Wüste Juda zurückgezogen. In den Schriftsammlungen, die sie vor dem Zugriff der Römer ( 66-73 n. Chr.) in den Qumranhöhlen in Tonkrügen versteckten, fanden sich auch Abschriften biblischer Bücher - z.B. die berühmte Jesajarolle, die auf dünnes Kupferblech kunstzvoll eingraviert, d.h. geschrieben wurde.

Die Textabschriften sind nachweislich vorchristlich und zeigen, wie sorgfältig man die Text abgeschrieben hat. Die Aufgabe des Schreibers war eine ganz besondere in jener Zeit, die noch weit über ein Jahrtausend von der Buchdruckerkunst entfernt war. Die Zuverlässigkeit der uns heute als Bibeltexte vorliegenden Schriften ist damit weitgehend von historischer Seite gesichert.

 

3.2    Der Prozess der Sammlung und Überlieferung (Tradition) und die Unterschiedlichkeit der Texte der Bibel. Man geht davon aus, dass es vor dem Aufschreiben  der ältesten Texte einen längeren Prozess der mündlichen Überlieferung gegeben hat. Das Volk Israels, vom Ursprung her nomadisch, hat sich erst nach Jahrhunderten als Volk zusammengefunden – und wuchs entsprechend aus unterschiedlichen Gruppierungen, Stämmen usw. mit jeweils eigenen Überlieferungen zusammen.

An den durch verschiedene Redaktionsprozesse und für unsere Wahrnehmung jetzt durchlaufend gestalteten Texten sind, wenn man genauer hinschaut, ursprüngliche ältere und älteste vorliterarische Überlieferungseinheiten und Einzelüberlieferungen zu erkennen. Man vermutet, dass je kürzer und auf eine nomadische Existenz bezogen eine Überlieferungseinheit ist, je älter ist sie. Unterweisungen in Familien werden z.B. zu den ältesten Bestandteilen gehören – vgl. 5.Mose 6,20 oder Richter 5,11.

Lieder wurden zu allen Zeiten gesungen, einige gehören auch bereits in diese frühe Zeit – vgl. Richter 5 (Lied der Debora).

Sprüche spielten in der Umwelt (z.B. in Ägypten) und spielen auch innerhalb der Traditionen Israels eine wichtige Rolle- nicht nur in dem ganz eigenen, unter dem Namen des Salomo gesammelten und zusammengestellten Buch der Sprüche. Man kann verschiedene Arten von Sprüchen unterscheiden : auf Lebenssituationen bezogen – wie Geburt [5], Heirat [6], Ehescheidung[7] , Tod [8], aber auch die Sprüche, die sich auf die Charakteristik eines Stammes beziehen wie 1. Mose 49; 5. Mose 33; Richter 5,15b-18 oder die Völkersprüche wie 1.Mose 9, 25-27, 16,12,27,27ff.

Sprichworte (u.a. im Buch der Sprüche Salomos), Rätsel 1.Könige 10, 1ff. oder Richter 14 , Weiheitssprüche der schlichten Volksweisheit oder in der Form der kunstvollen Sprichworte sowie  Kultsprüche spielen eine wichtige Rolle 4. Mose 6, 24-26, Orakelsprüche in der Religion des Volkes – z.B. 1. Mose 15,11. 

Gesondert ist die  Tora/Toroth (pl) zu benennen. Zum Bereich der Religion und der Lebenspraxis der Religion gehört die Tora im engeren Sinn: Tora meint zunächst die „priesterliche Weisung kultisch-religiöser oder ethischer Art“ [9]. Tora heißt zunächst  die ethische Grundorientierung  durch den Priester vor dem Einzug des Gläubigen in den inneren Tempelbereich : Psalm 24 oder Psalm 15.

Noch einmal zu der besonderen Kategorie der so verschiedenartigen Lieder. Es gibt die sehr frühen Lieder aus der Stämmezeit und dann durch alle Zeiten hindurch die Fülle sehr unterschiedlicher Lieder – profane und sehr religiöse.

Das Hohelied Salomos enthält z.B. wunderschönste Liebeslyrik. Durch religiös-symbolische Deutung haben diese Lieder ihren Platz  in der Bibel behalten.

Daneben gibt es Lieder zur Ernte[10], Spottlieder[11], Trauergesänge[12], Klagelieder[13], Hymnen[14], Kampf- oder Kriegslieder[15].

Eine ähnliche Form wie manche Sprüche haben  die apodiktischen, sehr knappen unbedingten Rechtssätze –z.B. 2. Mose 21,12 ff oder 3. Mose 18,7-23. Manche Sätze dieser Art sind entstanden und verbunden mit der Nomadenzeit Israels. Wir unterscheiden verschiedne Sprachformen der Rechtssätze : Prohibitive (Verbote),Gebote,  Fluchsprüche und Todesrechtssätze. Eine differenziertere Form des Rechts ist dann das in den Rechtsbüchern der hebräischen Bibel enthaltene und entfaltete kasuistische  Recht, in dem jeweils der konkrete Fall und seine Bedingungen bewertet wird. Das weist unmittelbar auf unser eigenes modernes Rechtssystem.

Überhaupt enthält die Tora und der Tanach wichtigste Beiträge zur Rechtsgeschichte der Menschheit und die  Zivilisation ist verbunden mit der orientalischen Rechtsgeschichte. Viele Rechtstexte versteht man gar nicht, wenn man nicht das altorientalische Recht zum Vergleich, z.B. den Kodex Hamurapi ( 18.Jh. v. Chr.), heranzieht.  

Neben den Gebotsreihen (Dekalog) – z.B. 10 Gebote in 2. Mose 20,1-17; 5. Mose 5,56-21 – gibt es andere Gebotsreihen und sogar die förmlichen Rechtsbücher : Das Bundesbuch 2. Mose 21-22,16; das sogenannte Heiligkeitsgesetz 3. Mose 17-26; den Kern des 5. Mosebuches Kapitel 12-26.

Zu den  Texten, die die hebräische Bibel mit der altorientalischen Umwelt verbinden, gehören mythologische Texte und mythologische Textanklänge – so am Anfang des 1. Mosebuches, in dem dramatischen, rein literarischen Hiobbuch, in Psalmen (Psalm 19;139; 90 u.ö.), im Jonabüchlein, im zweiten Teil des Jesjabuches und an vielen anderen Stellen der Bibel.

In diesen mythologischen Texten geht es um das Lebensganze, um die Existenz des Menschen, um die Fragen nach dem Sinn des Lebens, seinem Woher und Wohin – um Leben und Sterben, um das Verstehen der Aufgaben des Menschen und seiner Widersprüchlichkeiten.

Wer diese Texte liest wie naturwissenschaftliche Beschreibungen, hat den Sinn der Poesie oder dieser poetischen Versuche,  den Fragen des Lebens zu begegnen, nicht verstanden und wird sich leichtfertig mit diesen Texten über den Menschen, seine Verzweiflungen, seine Fragen, seine Hoffnungen hinwegsetzen. Denn der Mythos gehört zur Poesie. Der Mythos ist Menschenwort.

Diese hochpoetischen Texte wurden und werden bis heute auch durch Glaubende immer wieder verstanden als Wiedergabe von Fakten – damit aber hat man dann auch von gläubiger Seite den Wert und Sinn dieser Texte zerstört und naturwissenschaftlich fragenden Menschen den Zugang zu diesen Tiefendeutungen des Lebens zerstört.

Die mythologischen Texte der Bibel (wie andere mythologische Texte auch) müssen als Poesie, d..h. als literarische Form verstanden und befragt werden wie auch alle anderen Texte der Bibel.[16]

In den biblischen Texten begegnen ferner Legenden, Sagen, Märchen, Novellen, Fabeln[17], schließlich die Anfänge von Geschichtsschreibung und die ersten und einzigartigen Geschichtsschreibungen in der Welt- und Menschheitsgeschichte.

Zu den Legenden gehören die Heiligtumsbegründungslegenden[18], bzw.  Kultbegründungslegenden (Ätiologien) [19]oder auch die Personenlegenden  z.B. über die Propheten Samuel, Elia, Jesaja. Daniel.

Die Gattung der Novelle begegnet z.B. bei dem Text über Joseph und seine Brüder [20].

Die Gattung des Märchens steht hinter dem Hiobbuch  und auch hinter dem Jonabüchlein.

Die Gattung der Sage findet sich in der Schilderung des Richterbuches über den Helden Simson[21].

Wie in anderen Völkern des Orients auch, hat es den Anfang einer Geschichtsschreibung in Form von Annalen gegeben – z.B. bei der Beschreibung des Tempelbaus in Jerusalem unter Salomo.[22]  Andre Andeutungen sprechen davon, dass es Annalen-Auflistung von Taten oder auch Heldentaten gegeben hat . Das hat es so auch in der Umwelt der hebräischen Bibel gegeben- nicht jedoch die Gattung der reflektierenden Geschichtsschreibung. Sie ist in der alten Welt und Zeit so einzigartig[23]. Es gibt in der Bibel ein großes Erzählwerk über den Aufstieg Davids zum König Israels und bis zu seinem Ende. Dieses Werk enthält und besteht aus vielen Bestandteilen und auch Einzelüberlieferungen, ist aber dennoch ein Gesamtwerk.[24]

Erstaunlich ist selbst für moderne skeptische Augen und Ohren, wie kritisch in Israel mit dem Begründer der davidischen Herrscherdynastie und später mit seinen Nachfolgern umgegangen wird.

Man spricht andererseits davon, dass Israel mit seiner linearen Geschichtsauffassung das zyklische, an den Rhythmus der Natur gebundene Denken des Orients hinter sich gelassen hat.         

Eines der erstaunlichsten literarischen Phänomene ist die jahrhundertewährende schöpferisch-umgestaltende und bearbeitende Erschaffung des Pentateuch, der fünf Bücher Mose.

Die fünf Bücher Mose sind nach jüdischem Verständnis die Tora.

Das, was wir heute hier vor uns haben und als ein für modernen Geschmack mitunter schwieriges und schwerverständliches Gesamtwerk mit Brüchen und Einsprengseln lesen, ist nach literarwissenschaftlicher Analyse aus vier, bzw. fünf literarischen Quellen zusammengewachsen.

Die Tora ist zusammengewachsen und rührt nicht von einem Verfasser. Sie ist ein anonymes Werk. Mehre Verfasser haben hier gesammelt, umgestellt, mitgewirkt, mitgestaltet.

Man spricht heute von der Nomadenquelle (N), dem Jahwisten ( J - er verwendet z.B. den Gottesnamen Jahwe), dem Elohisten ( E - er verwendet u.a. den Gottesnamen Elohim), dem  Deuteronomiker (D), dem Priester (P) und dem Redakor ( R). Auf den Redaktor geht die Endgestalt der 5 Bücher Mose, der Tora zurück.

Man geht davon aus, dass der Jahwist in der Zeit zwischen König David und seinem Sohn König Salomo tätig war, weil sich in seinen Texten noch kein Hinweis auf die Reichsteilung in Nord- und Südreich nach König Salomo  findet (926 v.Chr.).

Der Elohist wird auf das 8.Jahrhundert  datiert. Er nimmt die bedrohlichen Veränderungen der Zeit auf ( assyrische Bedrohung und Zerstörung des Nordreiches 722 v.Chr.),  schätzt die Propheten und setzt sich kritisch mit religiösem Synkretismus in Israel auseinander.       

Das Deuteronomium (5. Buch Mose) wird als eine besondere Quelle mit eigenen Traditionen gewertet. Dieses Buch unterscheidet sich vom Jahwisten und Elohisten, aber enthält auch große Teile der anderen Überlieferung. Dieses Buch ist gestaltet wie eine Abschiedsrede des Mose vor der Einnahme des Landes Kanaan durch die Israeliten.

Das ist eine literarische Fiktion, bzw. Konstruktion. Man nimmt an, dass das Buch um 622 v. Chr. entstanden ist, weil König Josia aus der Davidsdynastie in jenem Jahr eine Religionsreform durchführte, in der er sich auf ein aufgefundenes Buch berief. Teile dieser Reform entsprechen Texten des 5. Buch Mose – z.B. die Kultzentralisation Kapitel 12.   

Die Priesterschrift (P) ist als Quellenschrift der Tora/ des Pentateuch  relativ gut abrenzbar.

Ihr historischer Hintergrund ist die Katastrophe des jüdischen Volkes im 6. Jahrhundert vor Chr. (586v.Chr.) – d.h. die Zerstörung des Tempels durch die Babylonier ( König Nebukadnezar)  und die Deportation der Eliten des Volkes.

Die Priesterschrift sammelt viel Material über Kultisches, gliedert die Geschichte nach Bünden zwischen Gott und Mensch : Noah, Abraham, Sinai. Die Priester  sind nach seiner Auffassung die Mittler zwischen Gott und Mensch – das ist ein bemerkenswerter Unterschied zu den anderen Quellen. Andererseits wird die babylonische Religion durch die priesterliche Schöpfungsgeschichte entmythologisiert,  wenn z.B. die Gestirngottheiten der Babylonier durch Gottes schöpferisches Handeln zu Lampen am Himmel degradiert werden. Sie haben durch die priesterliche Schilderung vollständig ihren sakralen Charakter verloren.

Die Gestaltung des Pentateuch / der Tora durch den Redaktor (R) geschah einerseits behutsam, andererseits hat er eben aus den unterschiedlichen Quellen und Überlieferungen jenes komplexe Gesamtwerk geschaffen, das die Überlieferungen zusammenfasst und zusammenhält und dann in der jüdischen Religion das Leben des jüdischen Volkes bis in unsere Zeit hinein  prägte - durch das permanente Überliefern und Reflektieren-  und kulturbildend auch auf  die folgenden Religionen und die Völker in ihrem Einflussbereich wirkte.    

Ein wichtiger Text  darf hier nicht unerwähnt bleiben : Das Bekenntnis Israels.

Israels Bekenntnis begründet den Monotheismus, dem sich in der Folge dann die Christen und die Muslime anschließen. Muslime fühlen sich in dieser Frage den Juden näher als den Christen.

Heute wird als das Bekenntnis Israels das Sch’ma Israel verstanden – 5. Mose 6,4-6 -und in allen Synagogen und zu vielen Lebensgelegenheiten gebetet, aber in den Hebräischen Schriften der Bibel gibt es zunächst eine interessante Stufe vor der Entwicklung zu diesem „Höre Israel“.[25]

Da reflektiert  zunächst das ältere Bekenntnis die Geschichte des Volkes von der mesopotamischen Wanderung bis zur Befreiung aus der Sklaverei: „Ein unherirrender Aramäer war mein Vater. Er ging hinab nach Ägypten, weilte dort als Fremdling, dem nur wenige Leute angehörten; aber er wurde dort zu einem großen, starken und zahlreichen Volk. Die Ägypter misshandelten und bedrückten uns und legten uns harte Arbeit auf. Da schrien wir zu Adonai[26]; dem Gott unserer Väter, und Adonai erhörte und; er sah unser Elend, unsere Mühsal und Bedrängnis. Und Adonai führte uns aus Ägypten heraus, mit starker Hand und ausgestrecktem Arm, mit großen Schrecknissen, Zeichen und Wundern, und brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch und Honig fließt.“  5. Mose 26,5-9.     

3.3  Prophetenbücher und Schriften

Wir folgen jetzt der jüdischen Weise der Aufreihung der biblischen Bücher.

Man unterscheidet die ersten und die folgenden/anderen Propheten.

Nach wissenschaft-theologischer Sicht haben wir es bei den Büchern Josua, Richter,  1. und 2. Samuel, 1. und 2. Könige allerdings nicht mit Prophetenbüchern zu tun.

Josua und Richter enthalten Schilderungen über die Landnahme (Josua und in ganz anderer Weise das Richterbuch) des Volkes Israel im Land Kanaan. Klar ist heute, dass der Prozess der Landnahme nicht so erfolgt ist, wie im Josuabuch beschrieben, sondern dass man eher an ein Einsickern der einzelnen Halbnomadenstämme zu denken hat – und dass die Volk- und Staatswerdung im Land selbst erfolgte, wobei der Moseschar vermutlich z.B. eine besondere Bedeutung zukam. Kriegerische Auseinandersetzungen hat es gegeben, aber zunächst nicht in dem Sinne, wie das Josuabuch Kapitel 6 über die Einnahme Jerichos berichtet.

Das Richterbuch schildert die Zustände vor der Entstehung des Königtums und enthält sehr interessante Passagen über das Leben und Wanden der Stämme und des Stämmebundes.

Bei den Büchern Samuel und Könige haben wir es zu tun mit der dramatischen und  überaus wichtigen Schilderung der Entstehung des Staates, des Königtums, der Konflikte zwischen Königtum und Propheten, sozialen und religiösen Konflikten, der Reichsteilung in Nord- und Südreich, des Untergangs des Nordreiches durch die Assyrer,  der Dramatik im Südreich Juda bis zur Zerstörung Judas und der Deportation der  Oberschicht.

Die folgenden bzw. anderen Propheten sind  nach christlicher Zählung die großen und kleinen Propheten. Sie wirken vom 8. Jahrhundert bis zum 2 Jahrhundert v.Chr. Sie setzen sich kritisch mit der Lebensart und den Verirrungen der der Herrschenden auseinander, formulieren sehr starke Sätze des Trostes für die Gedemütigten und Leidenden und  Visionen vom Frieden und gerechten Leben. Daneben finden sich auch scharfe Anklagen und bedrohlich wirkende Aussagen (z.B. im Buch Joel). Bei den Propheten finden wir alle großen und kleinen Themen des Lebens und Glaubens.

Im Jesajabuch haben wir ein aus drei Büchern zusammengestelltes Werk vor uns – aus unterschiedlichen Jahrhunderten – mit stärksten Botschaften vom Frieden und der Gerechtigkeit und des Trostes für das gedemütigte Volk, mit Jeremia begegnet uns der Typ des leidenschaftlichen und wegen seines Auftrages in seinem Volk leidende Mensch, der an seinem Leben selbst schwer trägt, Hesekiel wirkt im Exil in Babylon, hat große Visionen und   bemüht sich, das Volk nach der Niederlage und Depression aufzurichten. Amos fordert die Oberschicht und die Mächtigen heraus, ebenso Micha. Die anderen Propheten sprechen jeweils in die Situation des Volkes und des einzelnen hinein, die gekennzeichnet ist durch den Verlauf der Geschichte – nach der Zerstörung des Tempels 586. v. Chr., vor dem Neuaufbau 515 v. Chr. nach dem Sieg der Perser über die Babylonier 539v. Chr. bis in die Zeiten  der makedonischen Eroberungen und  der Nachfolger.

Die Perser hatten eine andere, tolerantere Praxis im Umgang mit den unterworfenen Völker als die Babylonier und die Assyrer.

Die Schriften (Ketubim) in der hebräischen Bibel enthalten den Reichtum der Dichtung, Weisheit, die Tiefe der Klage , des Leides, der nüchternen Lebensphilosophie, des Trostes, der Ermutigung  des Vertrauens und der Liebe. Sie sind eine Einladung auch für die skeptischsten Religionskritiker, den Reichtum der Bibel wahrzunehmen und zu entdecken.

Die Psalmen sind ein Gebetbuch, ein Klagebuch, ein Vertrauensbuch, ein Buch voller Hymnen und voll Lob und Dankbarkeit, aber auch ein Buch der tiefsten Klage und Anklage, sie sind ein Buch der menschlichen Existenzfragen. 

Die Sprüche Salomos sprudeln über von Witz und hintergründiger, skeptischer Klugheit.

An die inneren Grenzen des Tanach kommen wir beim Hiobbuch. Es ist bei genauem Bedenken kaum zu fassen.dass

dieses rein literarische Hiobbuch im Tanach steht. In den Gottesdiensten wird es mit seinen Anklagen Gottes nicht verlesen – und man versteht dies, wenn man es liest. Hinter dem Hiobbuch steht eine Märchenvorlage – aber das Buch ist ein Zeugnis des Ringens des Menschen um seine Existenz geworden.  Das Hohelied Salomos der Liebe sollte man lesen – mit und für seine Geliebten! Das Buch Ruth ist eine schöne Geschichte über ein Paar und eine Vorfahrin von König David.

Hier wird die Grenze des eigenen Volkes gesprengt, bzw. geöffnet.

Die Klagelieder sind wirklich Tränenlieder nach Zerstörung und der Eroberung - und den grausigen Gewalttaten der Babylonier – Mord, Vergewaltigung, Raub.

Der Prediger ist ein wirklich Weiser, der seine Weisheit sammelt und verkündigt. Er ist  nach frommem Vorverständnis kaum rechtgläubig mit seiner Ablehnung der Vorstellung von einem Leben nach dem Tod – aber welche eine Tiefe und Klugheit.

Das Buch Esther tröstet das jüdische Volk – denn der Anschlag auf das Leben des Volkes wird durch die mutige Königin Esther vereitelt. Der Text ist ein literarisches Trost- und Ermutigungsbuch. Es wird in den Synagogen zum Purimfest gelesen – ja förmlich gespielt.

Das Buch Daniel ist aus unterschiedlichen Texten zusammengewachsen, enthält  ermutigende Geschichten und Legenden und apokalyptische Visionen über die Zukunft.

Die Bücher Esra und Nehemia schildern die Zeit nach der Wiederkehr aus der Verbannung und bemühen sich um die konkrete Bewältigung der Probleme und Bedrohungen.

Die Bücher Chronik 1 und 2 ( Chronik 1 und 2 )   erzählen nochmals die Geschichte Israel- mit  glättenden Tendenzen.

Die Bibel ist also, das sehen wir deutlich, eine Bibliothek, kein Buch. Sie enthält die Tiefe und Abgründigkeit des Menschen, die Hoffung auf Frieden und Gerechtigkeit, den Protest gegen die Korrupten auf ihren Sesseln oder in ihren Palästen,  die Verirrung des Menschen und der Völker- auch Hass und Rachegedanken, das Mitleiden mit den vom Leben Geschlagenen oder den zu Unrecht Gestraften, alles in allem aber das Zutrauen, dass der Mensch Hoffnung und Vertrauen haben kann und seinen Auftrag als Mensch zu erfüllen hat, auf keinen Fall aber die grundlegenden Gebote der Humanität ungestraft übertreten darf.  Der andere Mensch ist wie Du – darum liebe deinen Nächsten  ( 3. Mose 19,18), suche den Frieden und jage ihm nach (Psalm 34).

 

4. Weiterführende Literatur  ( in Auswahl)

Baldermann, Ingo                     Die Bibel, Buch des Lernens, Berlin 1980

Beyerlin, Walter                       Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament,Berlin1978

Boecker, Hans Jochen             Recht und Gesetz im Alten Testament und im alten Orient, Neukirchen 1976

Clauss, Manfred                      Geschichte Israels – Von der Frühzeit bis zur Zerstörung Jerusalems (587v.Chr.), München 1986

Eissfeldt, Otto                          Einleitung in das Alte Testament, Tübingen 1956

Fühmann, Franz                       Das myhologische Element in der Literatur, in : Erfahrungen und Widersprüche Rostock 1975

Herrmann, Siegfried                 Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Berlin 1981

Metzger, Martin                       Grundriß der Geschichte Israel, Neukirchen 1963

Michel, Diethelm                      Israels Glaube im Wandel,  Berlin 1968

Levinson, Nathan Peter            Ein Rabbiner erklärt die Bibel, München 1982

Ortag, Peter                            Jüdische Kultur und Geschichte, LpB Brandenburg 1997

Pehlke, Helmuth                      Zur Umwelt des Alten Testaments, Holzgerlingen 2002-12-30

Petuchowski, Jakob J.             Wie unsere Meister die Schrift erklären

Beispielhafte Bibelauslegung aus dem Judentum, Freiburg 1982

Rad, Gerhard v.                       Die Botschaft der Propheten, Gütersloh 1960

Schmidt, Werner H.                 Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte

Schultz, Hans-Jürgen               Sie werden lachen – die Bibel, München 1975

Shire, Michael                         Siehe, Tage kommen, Berlin 2001

Wolff, Hans Walter                  Anthropologie des Alten Testamens, München 1973

Zobel/Beyse                            Das Alte Testament und seine Botschaft, Berlin 1984


[1] Tora- bezeichnet zunächst eine ethische oder religiöse Weisung, ist aber zur Bezeichnung der fünf Bücher Mose geworden und wird heute in der Synagoge entsprechend verwendet – mitunter aber auch als Bezeichnung für die gesamte hebräische Bibel

[2]  Tanach bedeutet : T= Tora/ N= Propheten- Nebiim/ (ch =) K = Schriften-Ketubim – d.h. die ganze Bibel

[3] Schultz, Hans Jürgen (Hg.) Sie werden lachen, die Bibel  Kreuz verlag Stuttgart 1975

[4] Petuchowski, Wie unsere Meister.., S. 130

[5]  1. Mose 35,17

[6]  1. Mose, 2,23

[7]  Hosea 2,4

[8]  Hiob 1,21

[9]  Zobel & Beyse, S. 68f.

[10]  Jesaja 9,2; 16,10

[11] 4. Mose 21,27-30

[12] 2. Samuel 1,19-27

[13] Z.B. das Buch der Klagelieder des Jeremia

[14] 2. Mose 15

[15] Das „Buch des Ungebeugten/Geradliniegen“ Josua 10,13

[16] Siehe Franz Fühmann, Das mythologische Element in der Literatur, in : Erfahrungen und Widersprüche

[17]  Eine wunderbare, herrschaftskritische Fabel findet sich im Richterbuch Kap. 9, 7-15

[18]  1. Mose 28,10-22; 1. Mose 17,1-14

[19]  2. Mose 11f.

[20]  1. Mose 37. 39-48

[21]   Richterbuch 13-16

[22]  1. Könige 6-8

[23]  Die Erzählungen über die großen Richter im Richterbuch gehören z.B. auch in diese Kategorie : Ehud,

    Gideon,  vor allem über   Jephta.

[24]  1. Samuel 16- 1. Könige 2

[25]  Dieses Sch’ma Israel lautet : Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen    

    Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft....

[26] Es ist im Judentum, in Übereinstimmung mit den Festlegungen in der Tora und Überlieferung,  nicht möglich und üblich, den Gottesnamen – das heilige Tetragramm – zu sprechen, ich habe deshalb hier die Form gewählt, die dort üblich ist. Man spricht stattdessen : Herr = Adonai.