Hebräische Bibel

 

Universität Duisburg-Essen

Schart, Gesetze im AT, Universität Essen WS 1999/2000, Stand: 1999-11-06

Boecker, Hans Jochen (1984) Recht und Gesetz im AT und im Alten Orient

Kap. 5.3. Beispiele kasuistisch formulierten Rechts aus dem Bundesbuch

(1) Die kasuistisch formulierten Rechtssätze-des Bundesbuches beginnen mit einem Sklavengesetz. Das ist auffallend und hat in den anderen altorientalischen Gesetzeswerken keine Parallele. Eine überzeugende Begründung für diese Tatsache ist bisher noch nicht vorgelegt worden. Erwähnt sei aber die Erwägung von S. M. Paul, der das Sklavengesetz als Einleitungsabschnitt (introductory section) des Bundesbuches interpretiert, strukturell vergleichbar mit der Einleitung des Dekalogs (Ex 20,2). Paul hebt dabei darauf ab, daß es in beiden Texten um eine Befreiung aus dem Sklavendasein geht (Studies in the Book of the Covenant, 1970, 106 f.). Auf der anderen Seite ist gelegentlich erwogen worden, Ex 21,2-11 als eine späte Hinzufügung vom ursprünglichen Bundesbuch abzutrennen (J. van der Ploeg, CBQ 13, 1951, 28 f.). Aber das ist doch unwahrscheinlich, vgl. dazu auch N. P. Lemche, VT 25 (1975) 129144. Daß das Sklavengesetz einen anderen Charakter hat als die anderen kasuistischen Rechtssätze des Bundesbuches, die in der Tatbestandsdefinition ein Delikt nennen und in der Rechtsfolgebestimmung eine Strafe, darauf ist häufig hingewiesen worden, vgl. H. Cazelles, Etudes sur le Code de l'Alliance (1946) 117; G. Liedke, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze (1971) 51 f. und oben S. 131. Das ist aber kein ausreichender Grund, das Sklavengesetz dem Bundesbuch abzusprechen, auch nicht, einen verloren gegangenen anderen Anfang des Bundesbuchs zu postulieren (so F. Horst, GR, 94, Anm. 208).

(2) Im Alten Orient war die Sklaverei seit den ältesten Zeiten bekannt und wurde überall praktiziert. Die altorientalische Wirtschafts- und Sozialordnung ist ohne die Existenz von Sklaven nicht vorstellbar. Israel hat an dieser allgemein geltenden Sozialordnung teilgehabt. Allerdings sind im Bereich des Alten Testaments einige bemerkenswerte Besonderheiten und nach vorn weisende Impulse festzustellen. Wichtig ist auch - und das sollte hier wenigstens erwähnt werden -, daß die Sklaverei, wie sie in Israel und dem übrigen Alten Orient praktiziert wurde, eine durchaus andere Form von Sklaverei darstellte, als sie aus der griechischen und römischen Antike bekannt ist. Dort wurden die Sklaven mit einer Brutalität und Unmenschlichkeit behandelt, die es im Alten Orient insgesamt so nicht gegeben hat. Man mag sich das an dem oft zitierten Wort des römischen Schriftstellers M. T. Varro verdeutlichen, der den Sklaven ein instrumenti genus vocale (eine Art Werkzeug, das sprechen kann) genannt hat. Entsprechend war die Behandlung der Sklaven.

<136:> Lit.: P. Heinisch, Das Sklavenrecht in Israel und im Alten Orient: StC 11 (1934/35) 201-218, 276-290; N. P. Lemche, The -Hebrew Slave,,. Comments on the Slave Law Ex. XXI 2-11: VT 25 (1975) 129-144; 1. Mendelsohn, Slavery in the Ancient Near East (1949); E. Meyer, Die Sklaverei im Altertum: Kleine Schriften zur Geschichtstheorie und zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte des Altertums (1900) 169-212; J. P. M. van der Ploeg, Slavery in the Old Testament: VTSuppl 22 (1972) 72-87; S. Schulz, Gott ist kein Sklavenhalter (1972); de Vaux, Lebensordnungen 1, 132-148; Wolff, Anthropologie, 289-297.*

(3) Der größte Teil der Sklaven rekrutierte sich aus dem Kreis der Kriegsgefangenen. Natürlich kam es auch vor, daß einer bereits als Sklave geboren wurde. Schließlich gab es die Möglichkeit der Selbstversklavung, wenn die wirtschaftliche Situation keinen anderen Ausweg mehr lieg. Einen solchen Sklaven hat das Sklavengesetz des Bundesbuchs im Blick:

»Wenn Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre lang Sklave sein, im siebten Jahre aber soll er ohne Entgeld als Freigelassener ausziehen. (3) Falls er allein gekommen ist, soll er allein ausziehen. Falls er Besitzer einer Frau war, soll seine Frau mit ihm ausziehen. (4) Falls sein Herr ihm eine Frau gegeben und sie ihm Söhne und Töchter geboren hat, sollen die Frau und ihre Kinder bei ihrem Herrn bleiben, und er soll allein ausziehen. (5) Falls der Sklave ausdrücklich versichert: ich liebe meinen Herrn, meine Frau und meine Kinder, ich will nicht als ein Freigelassener ausziehen, (6) so soll sein Herr ihn zu Gott heranbringen und ihn zur Tür oder zum Türpfosten heranbringen, und sein Herr soll sein Ohr mit einer Pfrierne durchstechen, und er soll sein Sklave sein für immer« (Ex 21,2-6).

(4) Abgesehen von dem stilfremden »du« in V. 2, das sekundär aus 20,24 ff. hier eingedrungen sein wird, ist das ein stilreiner kasuistischer Rechtssatz. InV. 2 steht der Hauptfall, in der Übersetzung mit »wenn« eingeleitet, dem in V. 35 mehrere Unterfälle, eingeleitet mit »falls«, angeschlossen sind. Für das Verständnis des V. 2 ist die Bedeutung des Wortes »hebräisch« wichtig.

Lit.: A. Alt, Erwägungen über die Landnahme der Israeliten in Palästina (1925)= Grundfragen, 136-185, bes. 178--182; ders., Die Ursprünge des israelitischen Rechts (1934) = Grundfragen, 203-257, bes. 215-219; 1. Bottero, Artikel Habiru: RLA IV/i (1972) 14-27; K. Koch, Die Hebräer vom Auszug aus Ägypten bis zum Großreich Davids: VT 19 (1969) 37-81; M. Weippert, Die Landnahme der israelitischen Stämme in der neueren wissenschaftlichen Diskussion (1967) bes. 66-102.*

(5) Was ist ein »hebräischer« Sklave? In späterer Zeit bezeichnet das so übersetzte Wort ('ibri) die Volkszugehörigkeit. So ist uns das Wort Hebräer bzw. hebräisch geläufig. Hebräisch ist dann ein Synonym für israelitisch. Dieser in späterer Zeit normale Sprachgebrauch ist für das Bundesbuch aber noch nicht anzunehmen.

(6) Seit in altorientalischen Texten (zuerst in den Amarnabriefen) der Terminus habiru bzw. 'apiru aufgetaucht ist, hat sich eine ausgedehnte wissenschaftliche Diskussion um das Verständnis dieses Begriffs entwickelt, die hier natürlich nicht nachvollzogen werden kann. Ausgehen kann man von der Annahme eines Zusammenhangs zwischen'apiru und'ibrim. Wie ist eine auf diese Weise bezeichnete Bevölkerungsgruppe zu definieren? Großes Ge- <137:> wicht hat nach wie vor die These, daß weder der eine noch der andere Terminus ursprünglich eine Nationalitäts- oder Volksbezeichnung ist, wenn auch gerade das in jüngeren Veröf f entlichungen wieder vertreten wird, vgl. z. B. den Auf satz von K. Koch. Vielmehr handelt es sich um einen soziologischen Terminus. Als 'apiru werden Leute bezeichnet, die wirtschaftlich, gesellschaftlich und rechtlich eine Bevölkerungsgruppe für sich bilden. »Immer sind es Entwurzelte, >Habenichtse und Aufbegehren«, sagt A. Alt (180). M. Weippert hat deshalb den englischen Begriff »outlaw« als beste Übersetzung für'apiru vorgeschlagen, den er so definiert: Es handelt sich um »eine Person, die aus irgendwelchen Gründen außerhalb der anerkannten Gesellschaftsordnung steht und damit des Rechtsschutzes entbehrt, den die Gemeinschaft allen ihren Gliedern gewährt« (69).

(7) Wenn in Ex 21,2 also von einem »hebräischen« Sklaven die Rede ist, dann ist kein besonderes Privileg israelitischer Sklaven gemeint. Die im Hauptfall ausgesprochene Regelung soll jedem Schuldsklaven in Israel zugute kommen. Im siebten Jahr ist er freizulassen, und zwar ohne daß er dafür eine weitere Gegenleistung zu erbringen hat. Die sechsjährige Arbeitsleistung wird als ausreichender wirtschaftlicher Ersatz für die Schulden des Sklaven angesehen. So ist diese Rechtsbestimmung einerseits durchaus an einem billigen Ausgleich zwischen den beiden Rechtspartnern interessiert, andererseits aber wird deutlich, daß die Freiheit eines in Unfreiheit geratenen Menschen doch das vornehmlich von dieser Rechtsbestimmung geschützte Rechtsgut ist.

(8) Im Codex Hammurabi findet sich eine vergleichbare Bestimmung. Sie ist insofern anders, als es sich um den Verkauf bzw. die Verpfändung von Familienangehörigen handelt. In diesem Fall verlangt der Codex Hammurabi bereits im vierten Jahr die Freilassung der in Schuldknechtschaft gegebenen Person. Die babylonische Regelung ist hier milder als die alttestamentliche.

»Wenn einen Mann eine Schuldverpflichtung getroffen hat, und er (deshalb) seine Frau, seinen Sohn oder seine Tochter verkauft oder in Schuldknechtschaft gegeben hat, so sollen sie drei Jahre lang im Haus ihres Käufers oder ihres Pfandherren arbeiten. Im vierten Jahr wird ihre Freilassung durchgeführt« (CH § 117).

(9) In der alttestamentlichen Rechtsbestimmung folgen dem Hauptfall mehrere Unterfälle, die im Codex Hammurabi keine Parallele haben. Wegen der anderen Gegebenheiten wären derartige Unterfälle zu CH § 1-17 auch nicht möglich. Den hier wirksamen Rechtsgrundsatz kann man so bestimmen: Alles, was ein Sklave in sein Sklavenverhältnis mit eingebracht hat, das nimmt er als Freigelassener mit hinaus; was er während dieser Zeit erworben hat, das bleibt Eigentum des Herren. Da der Schuldsklave keine Vermögenswerte besaß, bezieht sich diese Anordnung auf die Familienverhältnisse. Daß auch die Frau, die der Sklave während der Zeit seiner Unfreiheit geheiratet hat, bei seiner Entlassung im Hause des Herrn zurückbleibt, wirkt zunächst sehr befremdlich. Es ist aber so, daß der Sklave im Vollsinn des Wortes gar keine Ehe schlie- <138:> ßen kann. Lediglich der Herr des Sklaven kann zwischen zwei ihm unterworfenen Personen ein eheähnliches Verhältnis stiften als Akt seiner dominica potestas. Im römischen Rechtsbereich redet man in diesem Fall von einem contubernium, der einzigen Eheform, die unter Sklaven möglich war. Kommt es zu einer solchen Verbindung, dann dürfte es sich bei der Frau ebenfalls um eine Sklavin desselben Herren handeln. Der oben formulierte Rechtsgrundsatz wird auch auf die Kinder ausgedehnt. Das Sklavenrecht erweist sich hier als stärker als das normale Eherecht. Nach diesem gehören die Kinder zunächst dem Vater.

(10) Auf den in V. 5-6 behandelten letzten Unterfall sei noch besonders hingewiesen. Es konnte Gründe dafür geben, daß ein Schuldsklave auf die ihm zustehende Freilassung verzichtete. Das war ein schwerwiegender Entschluß, denn er band endgültig. Diese endgültige Bindung des Sklaven an den Herren und sein Haus wurde durch einen symbolischen Rechtsakt besiegelt, vgl. dazu Z. W. Falk, VT 9 (1959) 86-88. Das Ohr als für den Sklaven besonders typisches Organ ist uns schon im Codex Hammurabi begegnet (oben S. 113 f.). M. Noth sagt zu EX 21,5-6: »Das durchbohrte Ohr ist Sklavenzeichen, vielleicht, weil das Ohr als Organ der >Hörigkeit< galt und die Durchbohrung als Beseitigung der Integrität und damit der ursprünglichen Freiheit des Hörens verstanden wurde« (ATD 5, 1959, 144).

(11) Dem Sklavengesetz folgt ein Sklavinnengesetz. Die Sonderbestimmung ist nötig, da mit der Schuldsklavin grundsätzlich anders verfahren wird als mit dem Schuldsklaven.

»Wenn ein Mann seine Tochter als Sklavin verkauft, so soll sie nicht (frei) ausziehen, wie die Sklaven ausziehen. (8) Falls sie ihrem Herrn mißfällt, nachdem er sie für sich bestimmt hat, so soll er sie loskaufen lassen. Er ist nicht befugt dazu, sie an Ausländer zu verkaufen, weil er treulos an ihr gehandelt hat. (9) Falls er sie für seinen Sohn bestimmt, soll er mit ihr nach dem Recht der Töchter verfahren. (10) Falls er sich (noch) eine andere nimmt, so darf er ihre Fleischnahrung, ihre Kleidung und ihren sexuellen Verkehr nicht verkürzen. (11) Falls er ihr diese drei Pflichten nicht leistet, soll sie umsonst ohne Lösegeld ausziehen« (Ex 21,7-11)

(12) Dieser Rechtsbestimmung sollte man nicht entnehmen, daß die Sklavin grundsätzlich schlechter gestellt ist als der Sklave. Wenn der Sklavin die Freilassung nach sechs Jahren nicht gewährt wird wie dem Schuldsklaven - das ist die Bestimmung des Hauptfalls -, so drückt sich darin nicht einfach die antike Benachteiligung der Frau gegenüber dem Mann aus. Die Rechtsstellung der Sklavin ist eine andere, und von daher ergibt sich die Andersartigkeit ihrer Behandlung. Die Freilassung der Sklavin wird deshalb nicht vorgesehen, weil sie in aller Regel von dem Käufer als Nebenfrau für sich, seinen Sohn oder einen Sklaven gekauft und von ihrem Vater in dieser Abzweckung verkauft worden ist. Das zeigen auch die in den Unterfällen ausgesprochenen Schutzbestimmungen für eine derartige Frau, die alle das Interesse der Sklavin gegenüber ihrem Herren <139:> wahren. Sie darf nicht einfach wie eine Sache behandelt und beliebig weiterverkauft werden. Das ausdrückliche Verbot, sie an einen Ausländer zu verkaufen, dürfte darin begründet sein, daß dann die Einhaltung der der israelitischen Frau zustehenden Schutzvorschriften nicht mehr gewährleistet ist. Die beiden letzten Bestimmungen in V. 10 und 11 sind noch besonders zu beachten. Hier geht es darum, daß die Grundbedürfnisse der Sklavin nicht beeinträchtigt werden dürfen, auch wenn sich ihr Herr eine weitere Nebenfrau nimmt. Drei Dinge werden genannt: Fleischnahrung - das ist die Speise des Festes und der Freude! - Kleidung und schließlich der sexuelle Verkehr. Besonders das letztere verdient Beachtung. Aufs ganze gesehen denkt das Alte Testament im Bereich der Sexualität sehr stark vom Mann her. Das ist hier anders. Hier wird die sexuelle Befriedigung der Sklavin als ein ihr zustehendes Grundrecht genannt. Wird ihm nicht entsprochen, so darf die Sklavin ihren Herren ohne weitere Lösezahlung verlassen.

(13) Das Bundesbuch spricht noch in anderen Zusammenhängen vom Sklaven bzw. der Sklavin. Wir kommen damit in den Sachbereich der Körperverletzung, speziell der Sklavenverletzung.

»Wenn ein Mann seinen Sklaven - oder seine Sklavin - mit einem Stock schlägt, so daß er ihm unter der Hand stirbt, so soll er unbedingt gerächt werden. (21) Falls er jedoch einen oder zwei Tage am Leben bleibt, so soll er nicht gerächt werden, denn er ist sein Geld« (Ex 21,20-21).

»Wenn ein Mann ein Auge seines Sklaven - oder seiner Sklavin - schlägt und es zerstört, so soll er ihn für sein Auge als Freigelassenen entlassen. (27) Falls er einen Zahn seines Sklaven - oder seiner Sklavin - ausschlägt, so soll er ihn für seinen Zahn als Freigelassenen entlassen« (Ex 21,26-27).

(14) Diese Rechtsbestimmungen werfen eine Reihe von Fragen auf, die nicht alle mit letzter Sicherheit zu beantworten sind. Besonders auffallend erscheint im vorliegenden Textzusammenhang der Begründungssatz am Ende von V. 21 »denn er ist sein Geld«. Wenn man diesen Satz beim Wort nähme, so wären die übrigen Rechtsbestimmungen nicht nur überflüssig, sondern direkt unverständlich. Wenn der Sklave lediglich als Vermögenswert seines Besitzers angesehen würde ohne Eigenrecht, wie es dieser Begründungssatz ja tut, dann könnte der Herr mit seinem Sklaven machen, was er will. Das ist so nicht einmal im Codex Hammurabi vorgesehen, obwohl dort sehr viel stärker als im alttestamentlichen Recht der Sklave als Vermögenswert behandelt wird (vgl. oben S. 107 und S. 113 f.). A. Jepsen hat deshalb vorgeschlagen, die Begründung am Ende von V. 21 als einen späteren Zusatz anzusehen (32 f.). Man kann sich auch vorstellen, wie es zu einem derartigen Zusatz, der im kasuistischen Rechtsstil ohnehin sehr auffällig ist, gekommen ist. Die beiden in V. 20 und V. 21 unterschiedenen Rechtsfälle sind offenbar nicht mit der gewünschten und sonst vom kasuistischen Recht auch erreichten Klar- <140:> heit voneinander abgesetzt. Warum wird die geschilderte Tat so unterschiedlich beurteilt, je nachdem ob der Sklave sofort stirbt oder ob er die Mißhandlung für kurze Zeit überlebt? Diese nicht mehr befriedigend beantwortbare Frage mag dazu geführt haben, dem zweiten Fall die genannte Begründung beizufügen. Die Frage, warum es zu der unterschiedlichen Behandlung kommt, bleibt natürlich bestehen. Meist wird so argumentiert: die Bestrafung wird im zweiten Fall deswegen ausgesetzt, weil der direkte Zusammenhang zwischen Mißhandlung und Tod nicht mehr zweifelsfrei gesichert erschien. Wahrscheinlicher aber ist, daß sich hier die Unterscheidung zwischen beabsichtigter und nicht beabsichtigter Tötung auswirkt (Noth, 146). Die Rechtsfolgebestimmung »er soll unbedingt gerächt werden« bzw. »er soll nicht gerächt werden« wird häufig als Hinweis auf die Blutrache interpretiert, die entweder gefordert oder verwehrt wird (so z. B. H. Cazelles, 54; F. Horst, GR, 274 f.; Noth, 146). Es erhebt sich dann aber sogleich die Frage, wer zugunsten eines getoteten Sklaven die Blutrache ausüben sollte. Konnte das die Familie des Getöteten? Oder trat in diesem Fall die Rechtsgemeinde für die Familie ein (Noth, vgl. auch die diese These modifizierenden Überlegungen von G. Liedke, 48 f.)? Wegen der unverkennbaren Schwierigkeiten sind im Laufe der Zeit zahlreiche Lösungen erwogen worden bis hin, zu der Annahme, daß im Text von Ex 2 1, 2 o und 21 ursprünglich ein anderes Wort gestanden hat, das in irgendeiner Weise die Tatsache einer Bestrafung ausdrückte (J. M. P. van der Ploeg, 8o). Das Problem der exakten Beschreibung der geforderten bzw. ausgesetzten Bestrafung mag auf sich beruhen, wichtig ist, daß überhaupt eine Bestrafung vorgesehen ist. Bleibt man bei der wahrscheinlichsten, daß hier eine wie auch immer funktionierende Blutrache gemeint ist, dann ergibt sich die erstaunliche Tatsache, daß in diesem Fall das Leben eines Sklaven dem Leben eines freien Israeliten gleichgestellt wird.

(15) Auch zu diesem kasuistischen Rechtssatz kann man eine vergleichbare Rechtsbestimmung aus dem Codex Hammurabi anführen. Es handelt sich um § 116, der allerdings nicht nur und nicht vornehmlich an eine akute Mißhandlung denkt, sondern an die Möglichkeit, daß ein Schuldsklave infolge schlechter Behandlung während seiner Dienstzeit zu Tode kommt. Bei der Festsetzung der Rechtsfolge wird - und das ist ein gravierender Unterschied gegenüber dem Alten Testament - nach der sozialen Stellung des Umgekommenen differenziert. War er der Sohn eines Freien, verlangt das Gesetz nach dem Talionsgrundsatz die Tötung des Sohnes des Sklavenhalters, war er Sklave von Geburt an, genügte eine Geldzahlung.

(16) Für Ex 21,26-27 gibt es im Codex Hammurabi keine Entsprechung. Die Verletzung des eigenen Sklaven durch den Herrn des Sklaven wird auch in keinem der anderen altorientalischen Codices zum Gegenstand einer Rechtsbestimmung gemacht. Der Sklave wird dort eben wesentlich als Vermögenswert des Sklavenhalters angesehen, der sich durch Verlet- <141:> zung eines Sklaven selbst schädigt. Für die alttestamentliche Rechtsbestimmung bleibt die Frage offen, ob es bei dem hier genannten Sklaven wie in EX 21,2-11 um einen Schuldsklaven geht, oder ob auch alle anderen Sklaven gemeint sind. Da eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Schuldsklaven fehlt, spricht alles dafür, daß es sich (ebenso in Ex 21,20-21) allgemein um den Sklaven handelt. Damit liegt hier eine im altorientalischen Kontext gesehen sehr weitgehende Bestimmung vor. Hier ist praktisch nichts mehr davon spürbar, daß der Sklave einen Vermögenswert seines Besitzers darstellt. Der Sklave hat sein eigenes Recht, vor allem das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

(17) Im Sachzusammenhang der Rechtsbestimmungen über Körperverletzungen wird im Bundesbuch die Tötung durch ein stößiges Rind behandelt. Dieser Abschnitt hat seit langem das besondere Interesse der Interpreten gefunden.

Lit.: R. Haase, Die Behandlung von Tierschäden in den Keilschriftrechten: RIDA, 3. sé rie, 14 (1967) 11-65; B. S. Jackson, The Goring Ox: Essays in Jewish and Comparative Legal History (1975) 108-152; A. van Selms, The Goring Ox in Babylonian and Biblical Law: ArOr 18/4 (1950) 321-330; R. Yaron, The Goring Ox in Near Eastern Laws, in: H. H. Cohn, Jewish Law in Ancient and Modern Israel. Selected Essays (1971) 5o-60.

(18) Der genannte Rechtsfall wird in ähnlicher Weise nicht nur im Codex Hammurabi § 250-252, sondern auch in den Gesetzen von Eschnunna §§ 54-55 zur Sprache gebracht. Deshalb ist gerade diese Rechtsbestimmung oft dazu benutzt worden, um entweder ihre Verwandtschaft oder sogar die Abhängigkeit des Bundesbuchs vom Codex Hammurabi zu erweisen oder gerade umgekehrt auf Grund der auch hier bestehenden Unterschiede die Selbständigkeit der beiden Rechtsgestaltungen darzutun. Seit der Entdeckung der Gesetze von Eschnunna müssen auch sie in den Vergleich mit einbezogen werden. In CE §§ 56-57 wird über das Alte Testament und den Codex Hammurabi hinaus auch die tödliche Verletzung durch einen bissigen Hund geregelt. Die Strafe entspricht der, die beim »stößigen Rind« angeordnet ist. Wenn dieser Unterfall im Alten Testament und im Codex Hammurabi fehlt, so wohl deshalb, weil auch in diesem Fall und in ähnlichen Fällen nach den jeweils genannten Grundsätzen verfahren werden sollte. Hier der Text des Bundesbuches:

»Wenn ein Rind einen Mann - oder eine Frau - stößt, so daß er zu Tode kommt, so soll das Rind unbedingt gesteinigt werden. Sein Fleisch darf nicht gegessen werden. Der Besitzer des Rindes aber bleibt straffrei. (29) Falls es sich um ein Rind handelt, das schon vorher stößig war, und sein Besitzer ist gewarnt worden, er hat es aber trotzdem nicht bewacht, und es tötet einen Mann - oder eine Frau - so soll das Rind gesteinigt, aber auch sein Besitzer getötet werden. (30) Falls ihm eine Sühnezahlung auferlegt wird, so soll er, soviel als ihm auferlegt wird, als Lösegeld für sein Leben zahlen . (31) Stößt (das Rind) einen Knaben oder ein mädchen, so soll mit ihm nach diesem Rechtssatz verfahren werden. (32) Falls das Rind <142:> einen Sklaven - oder eine Sklavin - stößt, so soll er seinem Besitzer 30 Schekel Silber zahlen, und das Rind soll gesteinigt werden« (Ex 21,28-32).

(19) Wir schließen ein Zitat der entsprechenden Rechtsbestimmungen des Codex von Eschnunna an, für den Codex Hammurabi sei verwiesen auf S. 113.

»Wenn ein Rind stößig ist, und das Tor, hat es seinem Besitzer angezeigt, dieser aber sein Rind nicht bewacht (?) und es einen avilum stößt und ihn tötet, so gibt der Besitzer des Rindes eine zweidrittel Mine Silber« (§ 54).

»Wenn es einen Sklaven stößt und ihn tötet, gibt er 15 Schekel Silber« (§ 55).

(20) Unter den Assyriologen ist umstritten, welche Maßnahme der Besitzer des Rindes nach der Rechtsbestimmung § 54 angesichts der Gefährlichkeit des Tieres hätte ergreifen müssen. R. Haase (18 f.) schließt sich W. v. Soden an, der das in Frage stehende Wort mit »neigen, beugen« übersetzt und so kommentiert: »Der Kopf des stößigen Rindes muß also beim Passieren der Straße durch einen Strick in herabgebeugter Stellung gehalten werden, damit es niemand stoßen kann« (ArOr 17,1949, 373).

(21) Ohne Frage sind bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen dem babylonischen und dem alttestamentlichen Rechtstext festzustellen. Eschnunnarecht, Codex Hammurabi und Bundesbuch stimmen darin überein, daß sie die Tatsache rechtlich bewerten, ob die Gefährlichkeit des Rindes seinem Besitzer bekannt war oder nicht. Das Prinzip der reinen Erfolgshaftung ist an diesem Punkt in den drei Rechtsgestaltungen verlassen. Fahrlässigkeit dieser moderne Rechtsbegriff ist hier wohl anzuwenden - liegt erst dann vor, wenn ein Viehbesitzer keine entsprechenden Konsequenzen aus der ihm bekannt gemachten Gefährlichkeit des Tieres gezogen hat. Weiterhin stimmen die drei Rechte darin überein, daß sie für die Tötung eines Sklaven eine Geldzahlung an den Sklavenbesitzer vorsehen. Damit aber ist die Übereinstimmung zu Ende. Alle weiteren Einzelheiten sind unterschiedlich geregelt. In der alttestamentlichen Bestimmung fällt vor allem die dreifach erwähnte »Tierstrafe« auf, für die es im Eschnunnarecht und im Codex Hammurabi keine Entsprechung gibt. Haase stellt allerdings fest, daß man aus dem Fehlen einer Anordnung in einem altorientalischen Codex keine allzu weitreichenden Schlußfolgerungen ziehen darf. Er rechnet mit der Möglichkeit, daß der Codex Hammurabi stillschweigend voraussetzt, daß das gefährliche Tier verkauft werden mußte, während in früheren Zeiten möglicherweise wie im Bundesbuch die Tötung des Tieres üblich gewesen war (3942). Das ist eine Vermutung, über deren Wahrscheinlichkeit man streiten kann. B. S. Jackson bemerkt jedenfalls zutreffend zu dieser Differenz zwischen dem babylonischen und dem alttestamentlichen Recht: >>The fact that in practice the Babylonian owner would probably kill the beast eventually does little to remove this difference<< <143:> (109). Für das Alte Testament aber gilt, daß das Rind, das einen Menschen - anders als der Codex Hammurabi nennt das Bundesbuch Mann oder Frau - getötet hat, ebenfalls getötet werden muß, und zwar nicht nur und nicht in erster Linie deshalb, weil es sich damit als ein gefährliches Tier erwiesen hat. Die Tötung eines Menschen versetzt den Täter in eine Fluchsphäre. Unter diesem Fluch steht auch das Tier, dessen Fleisch deshalb nicht gegessen werden darf. Die Frage subjektiver Verantwortlichkeit wird nicht gestellt, kann ja bei einem Tier auch nicht gestellt werden. Es ist vordergründig, diese Rechtsvorstellung gegenüber der babylonischen Praxis als »primitiv« abzuqualifizieren, wie es oft geschehen ist. Sicher ist, daß hier noch Vorstellungen über den objektiv sich auswirkenden Schuldcharakter von Bluttaten vorliegen, allerdings sind sie nicht mehr ungebrochen (vgl. dazu F. Horst, GR, 271, eine völlig andere Auffassung vertritt Jackson, 108-121). Die Schuldrealität, die auf dem Tier liegt, überträgt sich nicht automatisch auf seinen Besitzer. Er bleibt straffrei, sofern er nicht fahrlässig gewesen ist.

(22) In der Bestrafung des fahrlässigen Tierbesitzers liegt der zweite wesentliche Unterschied zum babylonischen Recht. Während dort eine verhältnismäßig milde Geldstrafe vorgesehen ist, erlangt das alttestamentliche Recht die Todesstrafe für denjenigen, der durch sein Verhalten den Tod eines Menschen zumindest nicht verhindert hat. Grundsätzlich hält an dieser Wertung auch die Bestimmung des V. 30 fest, wo die Möglichkeit vorgesehen ist, durch eine Sühnezahlung das verwirkte Menschenleben einzulösen. Wer über diese Möglichkeit befindet und die Höhe des Lösegelds festsetzt, ist nicht gesagt. Man kann entweder an die Familie des Getöteten oder an die Rechtsgemeinde denken.

(23) Der Fall, daß ein Rind nicht einen Menschen, sondern ein anderes Rind zu Tode stößt, ist im Codex Hammurabi nicht behandelt, wohl aber im Alten Testament und im Codex von Eschnunna.

»Wenn jemandes Rind das Rind eines anderen stößt, so daß es zu Tode kommt, so soll man das lebende Rind verkauf en und den dafür erzielten Erlös teilen und auch das tote Tier soll man teilen. (36) War es jedoch bekannt, daß es sich um ein Rind handelt, das schon vorher stößig war, aber sein Besitzer hat es nicht bewacht, so soll er vollen Ersatz leisten: Rind für Rind. Aber das tote Rind soll ihm gehören« (Ex 21,35-36).

(24) Wenn die Gefährlichkeit des Tieres nicht bekannt war, wird auch in diesem Fall dem Eigentümer das Verhalten des Tieres nicht angelastet (V. 35), anderenfalls aber muß der Besitzer des Tieres für den Schaden aufkommen (V - 3 6). Der erste Fall findet im Eschnunnarecht eine schlagende Parallele:

»Wenn ein Rind ein anderes Rind stößt und es (dadurch) tötet, so teilen die Besitzer der beiden Rinder den Preis des lebenden Rindes und den Preis des getöteten Rindes untereinander« (§ 53).

(25) <144:> Es ist häufig festgestellt worden, daß CE § 53 und EX 21,35 als die beiden nächstverwandten Rechtsbestimmungen des babylonischen und biblischen Rechts angesehen werden können. So ist auch gerade an diesem Einzelfall die Frage der gegenseitigen Abhängigkeit gestellt und verhandelt worden. Jackson z. B. zeigt sich überzeugt davon, daß eine Beziehung zwischen CE § 53 und EX 21,35 besteht (140 f.). Aber ist die Annahme einer direkten Verbindung dieser beiden Einzelbestimmungen wirklich zwingend? Ist die Anordnung nicht in sich so einleuchtend, daß man auch hier mit einer Parallelentwicklung rechnen kann (gegen Jackson, 140)? Ganz unwahrscheinlich ist jedenfalls die Annahme einer literarischen Tradition. Sie müßte sich stärker bemerkbar machen und nicht nur so punktuell sichtbar werden. Wenn R. Yaron dagegen als gemeinsamen Herkunftsort an »Oriental legal practice« (52) denkt, so ist das zwar ein sehr unbestimmter Ausdruck, aber gerade als solcher mag er doch das Richtige treffen.

(26) Zwischen den beiden Rechtsbestimmungen, die mit dem stößigen Rind befaßt sind, steht im Bundesbuch ein anderer Rechtssatz, der es ebenfalls mit dem Phänomen der Fahrlässigkeit zu tun hat. Das mag zu der Textanordnung geführt haben.

»Wenn jemand eine Zisterne offen läßt, oder wenn jemand eine Zisterne gräbt und sie nicht zudeckt, und es fällt ein Rind oder ein Esel hinein, (34) 50 soll der Besitzer der Zisterne Ersatz leisten; er soll seinem (des Tieres) Besitzer Geld erstatten, aber das tote Stück Vieh soll ihm gehören« (Ex 21,33-34)

(27) Der Rechtsgrundsatz ist klar: Durch Fahrlässigkeit entstandener Schade ist durch den Verursacher auszugleichen. Die Rechtsfolgebestimmung wirkt überladen. Es mag sein, daß sich in ihr noch eine Entwicklung der Erstattungspraxis erkennen läßt. Früher wird die Ersatzleistung durch Naturalersatz erfolgt sein, später ergab sich dann die Möglichkeit der Erstattung durch Geldzahlung.

(28) Mit Ex 21,37 beginnt im Bundesbuch ein neuer Sachzusammenhang. Es geht bis einschließlich Ex 22,14 um Eigentumsvergehen verschiedener Art. Bestimmungen über Viehdiebstahl stehen am Anfang.

Lit.: A. Alt, Das Verbot des Diebstahls im Dekalog: Kleine Schriften 1 (1953) 333-340; F. Horst, Der Diebstahl im Alten Testament (1935) = GR, 167-175; B. S. Jackson, Theft in Early Jewish Law (1972).*

»Wenn jemand ein Rind oder ein Stück Kleinvieh stiehlt und es schlachtet oder verkauft, so soll er fünf Rinder geben als Ersatz für das Rind bzw. vier Stück Kleinvieh für das Stück Kleinvieh. (22,3) Falls das Gestohlene noch lebend in seiner Hand vorgefunden wird, sei es Rind, Esel oder ein Stück Kleinvieh, so soll er doppelten Ersatz leisten« (Ex 21,37; 22,3).

(29) <145:> Es war oben (S. 73) bereits darauf hingewiesen, daß die Erwähnung des Diebstahldelikts in den alttestamentlichen Gesetzen verglichen mit dem Codex Hammurabi stark zurücktritt. Noch auffallender aber ist der Unterschied in der Strafnorm, der zwischen dem Bundesbuch und dem altbabylonischen Recht besteht. im babylonischen Recht war Diebstahl ursprünglich mit der Todesstrafe bedroht. Erst allmählich hat sich eine Milderung durchgesetzt, wobei es in der Regel immer noch bei horrend hohen Strafsätzen geblieben ist, vgl. oben S. 71 ff . Von da aus stellt sich die Frage, ob im israelitischen Bereich ebenfalls mit einer derartigen Entwicklung gerechnet werden muß. Horst hat gezeigt, daß das nicht der Fall ist. Todesstrafe für Diebstahl sieht das Alte Testament nur in den Fällen vor, wo das Eigentum Gottes angegriffen wird. Unter diesen Rechtsgrundsatz fällt auch der Menschendiebstahl (EX 21,16; Dt 24,7)A. Alt hat überdies nachgewiesen, daß das Diebstahlverbot des Dekalog (EX 20,15; Dt 5,19) ebenfalls nicht den normalen Diebstahl, sondern den Menschendiebstahl meint. Während Menschendiebstahl mit dem Tode bedroht wurde, war in anderen Fällen die Diebstahlstrafe grundsätzlich Vermögensstrafe. Dabei wurden Bußleistungen von viel geringerer Höhe als in den altorientalischen Gesetzen festgesetzt, so daß man nicht zu Unrecht von einer »eige artigen Milde in der Beurteilung« des Diebstahls im Alten Testament gesprochen hat (J. Hempel, Das Ethos des Alten Testaments, 21964, 126). Auf der Suche nach einer Erklärung für diese Tatsache denkt Hempel daran, daß es sich beim Diebstahl um das Vergehen handelt, »welches als das typische >Verbrechen< des hungernden Armen gelten kann« (126), daß hier also einmal mehr der soziale Grundzug des alttestamentlichen Rechts zu Tage tritt. Diese Erwägung hat sicherlich ihre Berechtigung, zumal wenn man sie im Zusammenhang mit Dt 23,25 f. sieht, wo der straffreie Mundraub rechtlich festgelegt wird, bedarf aber wohl doch noch der Ergänzung. Die alttestamentliche Bewertung des Diebstahls ist nicht unabhängig von der alttestamentlichen Einschätzung des Eigentums zu verstehen. Es zeigt sich hier - anders als etwa im Codex Hammurabi -, daß die alttestamentlichen Rechtsbestimmungen noch erheblich vom nomadischen Eigentumsverständnis geprägt sind, das darin seine Besonderheit hat, daß es mehr gruppenbezogen als individualistisch ausgerichtet ist und deshalb dem Eigentum des einzelnen -weniger Aufmerksamkeit entgegenbringt. in der Regel besteht die alttestamentliche Diebstahlstrafe in der doppelten Ersatzleistung des Gestohlenen (vgl. EX 22,3.6.8), d. h. der Dieb hat das gestohlene Gut selbst zurückzugeben und etwas Gleichwertiges hinzuzufügen. Höhere Strafen sind bei Viehdiebstahl vorgesehen, allerdings nur dann, wenn besondere Bedingungen erfüllt sind. Das gestohlene Tier muß bereits geschlachtet und verkauft worden sein (EX 21,37). Diese Rechtsbestimmung hat in der Auslegungstradition mancherlei Erklärungsversuche herausgefordert, aber die Deutung braucht wohl gar nicht allzu komplizierte Wege einzuschlagen. Die Erhöhung der Ersatz- <146:> leistung bei Viehdiebstahl erklärt sich am einfachsten aus der Tatsache, daß das Vieh den eigentlichen Vermögensbesitz darstellte (F. Horst, 170, vgl. auch oben S. 72). Schnell durchgeführte Schlachtung bzw. Verkauf des gestohlenen Tieres aber läßt planvolles Vorgehen des Diebes erkennen und hat deshalb die härtere Bestrafung zur Folge (Noth, ATD 5, 148).

(30) Natürlich konnte es vorkommen, daß ein Dieb auch die vergleichsweise geringe Ersatzleistung nicht beibringen konnte. Auch dann wurde er nicht, wie es das altbabylonische Recht vorschreibt, mit dem Tode bestraft, er wurde vielmehr in die Schuldknechtschaft verkauft:

»Er soll vollen Ersatz leisten. Falls er nichts besitzt, soll er für das Gestohlene verkauft werden« (Ex 22,2 b).

(31) Einige Rechtsbestimmungen des Bundesbuches sind mit Angelegenheiten anvertrauten Gutes befaßt, dem sogenannten Obligationenrecht. Dieses Rechtsgebiet wird auch im Codex Hammurabi (siehe dazu oben S. 85 f.) und in den Gesetzen von Eschnunna behandelt.

»Wenn jemand einem anderen Geld oder Geräte zur Aufbewahrung übergibt, und es wird aus dem Hause dieses Mannes gestohlen, falls dann der Dieb ausfindig gemacht wird, so leistet er doppelten Ersatz. (7) Falls der Dieb nicht ausfindig gemacht wird, so soll der Besitzer des Hauses zu Gott herantreten (und schwören), daß er seine Hand nicht nach dem Eigentum des anderen ausgestreckt hat« (Ex 22,6-7)

(32) Nach dieser Rechtsbestimmung ist der Verwahrer für das ihm anvertraute Gut verantwortlich, aber nur bis zu einem gewissen Grade. Wird er das Opfer eines Diebstahls, so muß er das Depositum dem Eigentümer nicht ersetzen. Das kasuistische Recht unterscheidet dann zwei Unterfälle. Wird er dingfest gemacht, so muß der Dieb nach der üblichen Diebstahlstrafe den Schaden doppelt ersetzen. Wird der Dieb nicht ermittelt, so kann sich der Verwahrer durch einen Reinigungseid von dem Verdacht befreien, daß er sich selbst an dem fremden Eigentum vergriffen hat. Die im Codex Hammurabi vorliegende Fassung des entsprechenden Gesetzes ist für den Verwahrer entschieden ungünstiger, für den Eigentümer aber vorteilhafter, denn der Verwahrer muß den Schaden auf jeden Fall ersetzen. Seine Verantwortlichkeit für das ihm anvertraute Gut wird auch nicht durch besondere Umstände aufgehoben. Auch aus dieser Rechtsbestimmung ergibt sich, daß der Schutz des Eigentums im Codex Hammurabi viel stärker ausgeprägt ist als im alttestamentlichen Recht. In den Eschnunnagesetzen gibt es entsprechende Bestimmungen.

»Wenn jemand sein Eigentum einem auswärtigen Gastfreund (vgl. zu dieser Übersetzung W. v. Soden, ArOr 17,1949, 371 f.) zur Verwahrung übergibt und in das Haus nicht eingebrochen worden ist, der Türpfosten nicht umgestürzt, das Fenster nicht zerstört worden <147:> ist - (der Verwahrer) aber trotzdem das Eigentum, das er ihm übergeben hat, verloren gehen läßt -, so muß er (ihm) sein Eigentum ersetzen« (CE § 36).

»Wenn in das Haus des Mannes eingebrochen worden ist oder es eingestürzt ist und zusammen mitdern Eigentum, das er ihm übergeben hat, einVerlust für den Eigentümer des Hauses entsteht, so schwört der Eigentümer des Hauses im Tempel des Tischpak: >Zusammen mit deinem Eigentum ist auch mein Eigentum verloren gegangen. Ich habe keine Verschwörung gemacht und keinen Betrug begangen.< Wenn er so schwört, hat (der Geschädigte) gegen ihn keinen Rechtsanspruch« (§ 37).

(33) Auch hier zeigt sich, wie eng die Zusammengehörigkeit der altorientalischen Rechtsformulierungen in manchen Fällen ist, wenn es auch kein Beispiel für wörtliche Übereinstimmung gibt. Wie das Bundesbuch sieht auch das Eschnunnarecht die Einschaltung der Gottheit als Rechtshilfeinstanz vor. Durch einen Schwur, der im Tempel erfolgen muß, kann sich der Verwahrer von dem Verdacht der Veruntreuung reinigen. Tut er das, so hat der Eigentümer des verloren gegangenen Guts keinerlei Rechtsanspruch mehr. In dieser Hinsicht ist interessanterweise die Übereinstimmung mit dem alttestamentlichen Recht größer als mit dem Codex Hammurabi. A. Goetze hat die alttestamentliche Rechtsbestimmung als die urtümlichste der drei genannten bezeichnet, wogegen allerdings auch Bedenken geäußert worden sind, vgl. R. Yaron, The Laws of Eshnunna (1969) 167.

(34) Das Obligationenrecht wird im Bundesbuch noch in einer weiteren Bestimmung aufgegriffen.

»Wenn jemand einem anderen einen Esel oder ein Rind oder ein Stück Kleinvieh oder irgend ein anderes Tier zur Aufbewahrung übergibt und es kommt zu Tode oder bricht sich ein Glied oder es wird weggetrieben, ohne daß ein Augenzeuge dabei war, (lo) so soll ein Eid bei Jahwe zwischen den beiden entscheiden, ob er nicht seine Hand nach dem Gut des anderen ausgestreckt hat. Sein Besitzer soll es dann hinnehmen, und (der Aufbewahrer) braucht keinen Ersatz zu leisten. (11) Falls es ihm gestohlen worden ist, soll er seinem Besitzer Ersatz leisten. (12) Falls es zerrissen worden ist, soll er es als Beweis beibringen. Das Zerrissene braucht er nicht zu ersetzen« (Ex 22,9-12).

(35) Diese Rechtsbestimmung geht im Hauptfall (V. 9-10) grundsätzlich parallel mit der in V. 6-7 dargelegten Bestimmung des Depositenrechts. Nur daß es hier nicht um tote Gegenstände, sondern um die Aufbewahrung von lebenden Tieren geht, womit naturgemäß sehr viel mehr Möglichkeiten von Verlust und Beschädigung gegeben sind. Deshalb und weil auch im Kulturland für die Israeliten die Tierhaltung immer noch ein wesentlicher Faktor des Wirtschaftslebens war, wird die Tieraufbewahrung besonders behandelt. Der Aufbewahrer haftet für das ihm anvertraute Tier. Bei höherer Gewalt, die bei Bedarf durch einen Reinigungseid nachgewiesen wird, ist er auch in diesem Fall seiner Verantwortung ledig. Die Frage ist nur, wie die höhere Gewalt zu definieren ist.

(36) <148:> Während bei der Aufbewahrung von Sachen ein Diebstahl dem Aufbewahrer nicht zur Last gelegt wird, ist das bei der Aufbewahrung von Tieren anders. Vieh muß eben im Unterschied zu leblosen Gegenständen grundsätzlich bewacht und damit vor Entlaufen und Diebstahl geschützt werden. Wird ein anvertrautes Tier gestohlen, hat der Aufbewahrer auf jeden Fall fahrlässig gehandelt und muß Ersatz leisten (V. 11). Anders ist zu verfahren, wenn das anvertraute Tier durch wilde Tiere gerissen worden ist. Wenn der Verwahrer das gerissene Tier als Beweisstück beibringt, ist er von jeglicher Ersatzleistung entbunden (V. 12) . Aus Am 3,12 kann man entnehmen, daß es genügt hat, wenn der Hirt nur einige Überreste des von eifiem Raubtier zerrissenen Tieres als Beweis vorlegen konnte. Nach Lage der Dinge wird das der übliche Vorgang gewesen sein. Die hier vorgetrage ne Deutung geht davon aus, daß die Worte »oder es wird weggetrieben« in V. 9 sich nicht auf den normalen Diebstahl beziehen, von dem in V. 11 die Rede ist. In V. 9 dürfte an Wegtreiben des Viehs durch Räuber gedacht sein. Das fällt anders als der normale Viehdiebstahl unter die Kategorie höhere Gewalt. Vergleichbare Rechtsbestimmungen bringt der Codex Hammurabi in den §§ 263-267, siehe dazu oben S. 113.

(37) Zwischen die beiden kasuistischen Rechtssätze, die bestimmte Fälle des Obligationenrechts behandeln, ist im Text des Bundesbuchs ein Satz eingeschoben, der sich schon von seiner stilistischen Gestaltung her vom Textzusammenhang abhebt, Ex 22,8. Es handelt sich um eine allgemein formulierte Rechtsanordnung für den ganzen Bereich der Eigentumsdelikte. V. 8 greift also über den Sachbereich des Obligationenrechts hinaus, vgl. zu dieser Stelle die gründliche Untersuchung von R. Knierim, Die Hauptbegriffe für Sünde im Alten Testament (1965) 143-184

» In jedem Fall eines Eigentumsdeliktes, gehe es um ein Rind, um einen Esel, um ein Stück Kleinvieh, überhaupt um irgend etwas, was verloren gegangen ist, und (der Verlierer) sagt >dieser ist es<, so soll die Angelegenheit der beiden vor die Götter kommen. Wen die Götter schuldig sprechen, der soll dem anderen doppelten Ersatz leisten« (EX 22,8).

(38) Diese Rechtsbestimmung führt in die Situation von Rechtsauseinandersetzungen, die vor dem Forum der israelitischen Ortsgerichtsbarkeit stattfinden. Es ist etwas abhanden gekommen, und von dem geschädigten Eigentümer wird ein anderer beschuldigt, das Verlorene an sich genommen zu haben. Beweise hat der Eigentümer des verloren gegangenen Gutes nicht in der Hand, und Zeugen sind auch nicht da. Deshalb macht er vor dem Forum der Ortsgerichtsbarkeit einen Urteilsvorschlag: »Dieser ist es.« Aber das bestreitet der Beschuldigte. So steht Aussage gegen Aussage. Da andere Beweismittel offenbar fehlen, bleibt nur die Einschaltung der Gottheit, die durch ein Gottesurteil (Ordal) den Schuldspruch ausspricht. Nicht ganz eindeutig ist der Text hinsichtlich <149:> der Frage, ob der Schuldspruch des Gottesurteils gegebenenfalls auch den Beschuldiger treffen kann, wenn sich eine Beschuldigung als haltlos erweist. Knierim hat gute Argumente dafür vorgebracht, daß in einem Rechtsfall, wie er von EX 22,8 vorausgesetzt wird, das nicht anzunehmen ist, die Frage »schuldig« oder »nicht schuldig« also nur im Blick auf den Beschuldigten gestellt wird (154 f .) Im Bundesbuch folgen Rechtsbestimmungen, die verschiedene Aspekte der Tiermiete zum Inhalt haben.

»Wenn jemand von einem anderen (ein Tier) leiht und es bricht sich ein Glied oder kommt zu Tode, ohne daß sein Besitzer anwesend ist, so soll er vollen Ersatz leisten. (14) Falls sein Besitzer anwesend ist, braucht er keinen Ersatz zu leisten. Falls er ein Lohnarbeiter ist, geht (der Schaden) zu Lasten seines Lohnes« (Ex 22,13-14).

(39) Diese Rechtssätze dürften in erster Linie gemietete Arbeitstiere (Esel oder Rind) im Auge haben. Das Risiko einer Schädigung des geliehenen Tieres geht weitgehend zu Lasten des Mieters. Der Eigentümer wird aus naheliegenden Gründen stärker geschützt, als es bei der in V. 9-12 behandelten Aufbewahrung des Tieres der Fall ist. Nur wenn der Eigentümer bei dem Unfall anwesend war, entfällt für den Mieter die Verpflichtung zur Ersatzleistung. Es wird vorausgesetzt, daß er zugunsten seines Tieres hätte eingreifen können. Als zweiten Unterfall zum Hauptfall V- 13 bringt V. 14 b eine Sonderbestimmung im Blick auf einen Lohnarbeiter, der von seinem Arbeitgeber ein Tier zur Ausführung der ihm übertragenen Arbeit ausgeliehen bekommen hat. Kommt das Tier zu Schaden, so ist der Lohnarbeiter dafür voll verantwortlich. Die Schadensregulierung erfolgt durch Verrechnung mit seinem Arbeitslohn. Im Codex Hammurabi wird die Tiermiete in den §§ 241-249 behandelt, siehe dazu oben S. 112.

Exkurs 6 Zur alttestamentlichen Talionsformel

Lit.: A. Alt, Zur Talionsformel (1934) = Kleine Schriften 1 (1953) 341-344; D. Daube, Studies in Biblical Law (1947) bes. 102-153; A. S. Diamond, An Eye for an Eye: Iraq 1.9 (1957) 151-155; B. S. Jackson, The Problem of Exod. XXI 22-5 (ius talionis): VT 23 (1973) 273-304 = Essays in Jewish and Comparative Legal History (1975) 75-107; V. Wagner, Rechtssätze in gebundener Sprache und Rechtssatzreihen im israelitischen Recht(1972)bes.3-15; J. Weismann,Talion und öffentliche Strafe im Mosaischen Rechte (1913) = Koch, Vergeltung, 325-406.

(40) Nach einer weit verbreiteten Meinung macht der Talionsgrundsatz, d. h. »der Grundsatz streng gleicher Ersatzforderung für angerichteten <150:> Schaden« (A. Alt, 341) das Wesen des alttestamentlichen Rechts aus. ja mehr noch, der sich in dem viel zitierten »Auge um Auge, Zahn um Zahn« aussprechende Rechtsgrundsatz gilt vielen als das entscheidende Prinzip nicht nur des alttestamentlichen Rechts, sondern der alttestamentlichen Religion, die damit als eine Religion der Vergeltung verstanden wird. Die folgenden Darlegungen wollen durch einige Überlegungen zur alttestamentlichen Talionsformel zeigen, wie unzutreffend derartige Schlußfolgerungen sind.

(41) Zunächst ist festzustellen, daß der Talionsgrundsatz keineswegs spezifisch alttestamentlich ist. Hier sei nur an den Codex Hammurabi erinnert. Für den Codex Hammurabi hat das Talionsprinzip auf weite Strekken hin eine normsetzende Bedeutung, die weit über den Bereich der Körperverletzung hinausreicht.

(42) Wenn das Talionsprinzip auch nicht spezifisch alttestamentlich ist, so könnte es trotzdem für das alttestamentliche Recht die Qualität eines Grundprinzips haben, Aber auch das trifft in keiner Weise zu. Die sogenannte Talionsformel kommt innerhalb der ausgedehnten alttestamentlichen Rechtsliteratur nur an drei Stellen vor, wobei die dritte bereits eine sprachliche Abwandlung erfahren hat und auch aus anderen Gründen nur am Rande zu erwähnen ist. Die drei Stellen sind: Ex 21,23-25; Lev 24,18.20 und mit Einschränkungen Dt 19,21. Aber auch über die Formel hinaus ist der Talionsgrundsatz für das alttestamentliche Recht nicht allgemein bestimmend. Nur gelegentlich wird er wirksam, so z. B. in Ex 21,36 im Zusammenhang der Rechtssätze über das stößige Rind, vgl. dazu oben S. 143.

(43) Wenden wir uns nunmehr der Talionsformel selbst zu! Wir wählen dazu die Belegstelle aus dem Bundesbuch, Ex 21,23-25. Die Talionsformel steht dort in einem Textzusammenhang, der mit V. 22 stilrein kasuistisch beginnt, ab V. 23 b dann aber in den völlig anderen Stil der Talionsformulierung übergeht.

»Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau stoßen, so daß ihr Kind abgeht, aber sonst kein Schaden entsteht, so soll eine Geldbuße auferlegt werden, so wie der Mann der Frau sie ihm (dem Täter) auferlegt; und er soll sie vor Schiedsrichtern bezahlen. (23) Falls aber ein Schaden entsteht, dann sollst du geben Leben für Leben (24) Auge für Auge Zahn für Zahn Hand für Hand Fuß für Fuß (25) Brandmal für Brandmal Wunde für Wunde Strieme für Strieme« (EX 21,22-25).

(44) Der mit V. 23 b eintretende Stilbruch ist unverkennbar. Er wird bereits <151:> durch das im kasuistischen Zusammenhang stilfremde »du« kenntlich gemacht. Die Verbform »du sollst geben« ist inV. 23 b aber nur eine Oberleitung zu der dann folgenden Talionsformel, die sich auch inhaltlich im Zusammenhang als ein Fremdkörper erweist, denn allenfalls das erste Glied der Reihe kann sinnvollerweise mit dem vorher beschriebenen Rechtsfall in Verbindung gebracht werden. Daraus ergibt sich die Konsequenz, daß die Talionsformel eine Größe eigener Art ist und als solche interpretiert werden muß.

(45) Zwei kleinere exegetische Bemerkungen seien an den Anfang gestellt. Es ist zu beachten, daß sich nach den ersten fünf Gliedern der Reihe ein sachlicher Bruch ergibt (vgl. V. Wagner, 4): Während nach dem überschriftartigen ersten Glied in den folgenden vier Gliedern verwundete Körperteile aufgezählt werden, folgt mit den Gliedern sechs bis acht eine Aufzählung von Verletzungen. Das hat in den altorientalischen Parallelen keine Entsprechung (vgl. Wagner, 7-9), und deshalb liegt die Vermutung nahe, daß es sich hier um eine spezifisch alttestamentliche Erweiterung handelt. Die zweite Vorbemerkung betrifft die Reihenfolge der Glieder eins bis fünf. An den Anfang ist die umfassendste Aussage gestellt: Leben für Leben. Das hebräische Wort, das an dieser Stelle steht (näpäsh) hat die Grundbedeutung »Kehle«, dürfte hier aber in der allgemeinen Bedeutung »Leben« gebraucht sein. So bildet das erste Glied eine generalisierende Überschrift über die folgende Reihe. Die Reihenfolge der nächsten vier Glieder soll keine Wertung der genannten Körperteile ausdrücken, es handelt sich vielmehr - und auch das ist altorientalisches Erbe -um eine anatomisch orientierte Reihenfolge: Die Aufzählung geht von oben nach unten am menschlichen Körper entlang; Näheres dazu bei Wagner, 7 f.

(46) Es soll nunmehr nach der Herkunft und der ursprünglichen Bedeutung der alttestamentlichen Talionsf ormel gefragt werden. Dazu hat Alt eine These entwickelt, die weitgehende Zustimmung erfahren hat. Alt hat die alttestamentliche Talionsformel mit einer entsprechenden Formel verglichen, die man im Zusammenhang lateinischer Inschriften in Nordafrika, im Gebiet des heutigen Algerien gefunden hat. Diese Inschriften stammen etwa aus dem Jahre 2oo n. Chr. Dabei handelt es sich um kultische Texte. Es ist von einem Lammopfer die Rede, das für eine andere Opferleistung eintritt, die die Gottheit eigentlich gefordert hat, nämlich das Opfer des erstgeborenen Kindes. In diesem Zusammenhang taucht nun die folgende Formel auf: anima pro anima, sanguis pro sanguine, vita pro vita. Der zweifellos frappierende Gleichklang mit der alttestamentlichen Talionsformel hat Alt dazu veranlaßt, auch die alttestamentliche Talionsformel aus dem kultischen Bereich zu erklären. Auch bei dieser Formel geht es nach Alt ursprünglich um eine Ersatzleistung an die Gottheit, allerdings nicht um eine gnädig gestattete, wie bei den punischen Texten, sondern um eine streng geforderte, »wenn durch Tötung oder Körperverletzung eines Menschen die Gottheit geschädigt ist, <152:> die ihm Leben und Körper gegeben und darum den ersten Besitzanspruch auf beides hat« (Alt, 343).

(47) Die Bedenken, die sich gegen diese traditionsgeschichtliche Ableitung der alttestamentlichen Talionsformel richten, basieren nicht in erster Linie auf der erheblichen Zeit- und Raumdifferenz, die zwischen den beiden von Alt verglichenen Texten besteht. Grundsätzlich ist es sicher möglich, auch weit entfernt lokalisierte Kulttexte als Verstehenshilfe heranzuziehen. Was in diesem Fall aber unüberwindliche Schwierigkeiten macht, ist die Formel selbst. Da sind so erhebliche Unterschiede festzustellen, daß der Vergleich unmöglich wird. Der Text der algerischen Votivstelen nimmt mit allen Teilen das Opfertier als ganzes in den Blick. am ma, sanguis, vita sind nicht Körperteile, eröffnen auch nicht den Weg dazu, einzelne Körperteile zu nennen. Hier geht es um das Leben als ganzes, das durch ein Tieropfer abgelöst wird. In der alttestamentlichen Formulierung ist das anders. Nur das erste Glied der Reihe zielt auf die Ganzheit des Lebens. Dann aber folgt sogleich die Nennung einzelner Körperteile und schließlich sogar bestimmter Verwundungen. Wenn man das beachtet und darüber hinaus bedenkt, daß es keinen alttestamentlichen Text gibt, der eine Ersatzleistung an die Gottheit als Inhalt des ius talionis nahelegt, wie Wagner, 12, richtig feststellt, dann verliert die Altsche Deutung alle Wahrscheinlichkeit. Die Talionsformel dürfte vielmehr von Anfang an zu dem Sachbereich gehört haben, dem sie im Text des Bundesbuches auch heute noch zugeordnet ist, dem Bereich des Schadensausgleichs, und das ist kein kultischer, sondern ein juristischer Bereich.

(48) Wie ist der Rechtswille zu beschreiben, der in der Talionsnorm wirksam ist? Es geht diesem Recht - darum - und das ist eine entscheidende Intention des Rechts überha das gegenseitige Verhältnis der Menschen im Gleichgewicht zu halten. Mit guten Gründen kann man davon ausgehen, daß die Talionsformel aus der nomadischen Gerichtsbarkeit stammt. »Wir werden es hier mit einer Rechtsnorm zu tun haben, die zwischen den einzelnen Gemeinschaften gegolten hat, das heißt einem Intergentalrecht« (Wagner, 14). Hier, wo nicht ein personbezogenes, sondern viel stärker ein gruppenbezogenes Rechtsdenken vorliegt, spielt der genannte Rechtsgrundsatz eine hervorragende Rolle. Ist einem Mitglied der einen Gruppe ein Schaden zugefügt worden, so ist damit die Kraft der Gruppe geschädigt; ein Ausgleich kann nur so gefunden werden, daß auch die andere Gruppe entsprechend geschädigt wird. Die Intention der Talionsformel ist dabei aber nicht auf die Schädigung als solche gerichtet - so klingt sie in unseren Ohren -, sondern sie zielt auf die Begrenzung der Schädigung. Es geht darum, den durch die Schädigung ausgelösten Blutrachemechanismus auf ein Maß zu begrenzen, das das Überleben der betroffenen Gruppen ermöglicht. Auf der anderen Seite kann zur Illustration für ein ungezügeltes Rachehandeln ein Text wie Gen 4,23 f. dienen, das sogenannte Lamechlied:

<153:> »Lamech sprach zu seinen Frauen: Ada und Zilla, hört meine Rede, ihr Frauen Lamechs, vernehmt meinen Spruch: Einen Mann habe ich erschlagen für meine Wunde und einen Jüngling für meine Strieme. Wird Kain siebenmal gerächt so Lamech siebenundsiebzigmal.«

(49) Die Eskalation der Vergeltung, die das Lamechlied so plastisch beschreibt, soll durch die Anwendung der Talion verhindert werden. Man kann die Talionsformel deshalb paraphrasierend so wiedergeben: Nur ein Leben für ein Leben, nur ein Auge für ein Auge, nur einen Zahn für einen Zahn usw.

(50) Die Talionsformel ist weitertradiert worden, auch nachdem die Nomadensituation vergangen war. Sie blieb aber bezogen auf den Rechtsfall der Körperverletzung, hat sich also keineswegs zu dem Prinzip des alttestamentlichen Rechtsdenkens entwickelt. Sie wurde - wohlgemerkt: bezogen auf diesen Rechtsfall - zu einem Rechtsgrundsatz, nach dem sich die richterliche Entscheidung ausrichten soll. Und weil die Formel mit so vielen Mißverständnissen belastet ist, sei auch dies noch gesagt: Der Talionsgrundsatz ist keineswegs ein Grundsatz für das zwischenmenschliche Verhalten, er entspricht deshalb nicht unserem »Wie du mir, so ich dir«. Er gilt für die Rechtssprechung der Rechtsgemeinde.