Jüdisches Lexikon

WÖRTERBUCH DES

JÜDISCHEN RECHTS
 
 Neudruck 1980 der im "Jüdischen Lexikon" (1927-1930)
erschienenen Beiträge zum jüdischen Recht
 
 MARCUS COHN

 

 

HEFKER  (herrenloses Gut)

Im jerusalemischen Talmud hewker; die Freigabe eines Gutes sowie das herrenlose Gut selbst.  Mobilien oder Immobilien, die in niemandes Eigentum stehen oder die durch ihren Eigentümer für herrenlos erklärt wurden, werden im j. Recht als H. bezeichnet; in übertragenem Sinne wird mit H. auch die freie Gesinnung und Zügellosigkeit bezeichnet (b.  Jew. 66a; b. Gitt. 13a). Der Ursprung dieser Freigabe und Herrenlos-Erklärung dürfte in den bibl. und talmudischen Vorschriften über Überlassung von Getreide auf den Feldern, insbesondere in der Ecke (Pea) jedes Feldes an die Armen zu finden sein (Lev. 19, 9; Pea 6, 1; vgl. auch Schek.1, 2). Aus dem Schulenstreit zwischen Bet Schammaj und Bet Hillel (j.  Pea 19b) kann wohl entnommen werden, daß die Einrichtung des H. auch historisch vom Pea-Akte ihren Ausgang genommen hat. - Jede Sache ist zunächst als herrenlos (res nullius) zu betrachten und erhält erst durch Aneignung einen Eigentümer. Im j. Recht sind daher die Formen des Erwerbs einer herrenlosen Sache (originärer Erwerb) leichter als die einer in fremdem Eigentum stehenden Sache, bei der nicht nur die Aneignung, sondern auch der Verzicht auf das Eigentum notwendig sind (derivativer Erwerb; s. Eigentum III).

Im einzelnen sind nach j. Recht folgende Arten von H. zu unterscheiden:

1. Fehlen eines Eigentümers gemäß der Natur der Sache (z.  B. alle Dinge, die im Wasser, im Wald oder in der Wüste gefunden werden).  Die Sache gehört zunächst niemandem, kann aber von jedermann durch Okkupation als Eigentum erworben werden (b. B. K. 8la f.), u. zwar im Gegensatz zu den öffentlichen Sachen, die der Allgemeinheit zustehen, und zwar von jedermann benutzt, aber von einem einzelnen nicht erworben werden können.

2. Freiwillige Aufgabe des Eigentums durch den Eigentümer. Die Sache wird H. schon durch eine entsprechende Erklärung des Eigentümers, nicht erst (wie im römischen Recht) durch die tatsächliche Aufgabe des Besitzes.  Der Eigentümer hat jedoch - falls er nichts Gegenteiliges erklärt hat - das Recht, sich die herrenlos gewordene Sache selbst wieder anzueignen.  Diese H.-Erklärung des Eigentümers war ursprünglich an keine Form gebunden, und im Hinblick auf ihren Ursprung in sozial-ethischen Instituten wird in jeder H.-Erklärung nach der Ansicht mancher Gelehrten eine Art Gelübde (Neder) erblickt, so daß ihr Widerruf unmöglich ist. Es ist aber auch möglich, eine Sache für eine bestimmte Zeit für H. zu erklären; wird sie dann vor Ablauf dieser Zeit von einem andern erworben, so gehört sie ihm für dauernd, andernfalls verbleibt sie dem ursprünglichen Eigentümer. Umstritten ist im Talmud die Frage, ob schon die H.-Erklärung als solche die Sache endgültig dem Eigentum des Erklärenden entzieht oder erst die Aneignung durch einen anderen (b. Ned. 44a ff.). Nach einer späteren Verordnung soll die H.-Erklärung nur dann Geltung haben, wenn sie vor einem Dreiergericht (Bet din) abgegeben wurde (Maimonides, H. nedarim 2, 16; Ch.  M. 273, 7).  Diese Einschränkung wurde gemacht, weil die Formlosigkeit der H.-Erklärung dazu führte, daß Personen solche H.-Erklärungen häufig fingierten, um sich der auf dem Eigentum lastenden Verpflichtung zu Abgaben zu entziehen (s.  Fiktion). Ferner wurde später im Interesse des Gläubigers, um einer Verschiebung von Vermögen vorzubeugen, angeordnet, daß dieser berechtigt sein soll, zur Befriedigung seiner Forderungen - auch der nicht durch die gesetzliche Generalhypothek (s.  Pfandrecht) sichergestellten Forderungen - trotz einer H.-Erklärung das für herrenlos erklärte Gut in Anspruch zu nehmen.

3. Zwangsweise Aufgabe des Eigentums durch den Eigentümer.  Ein solcher Zwang zum Verzicht auf das Eigentum liegt in folgenden Fällen vor:

a) Übergang des Eigentums des einzelnen am Ertrag seines Feldes auf die Gesamtheit jeweils im siebenten Jahr (Schemitta).  Dieser Übergang des Eigentums vollzieht sich unabhängig vom Willen des einzelnen unmittelbar von Gesetzes wegen (Ex. 23, 11; Lev. 25, 4ff.). Das Erlaßjahr bewirkt gewissermaßen, daß der ganze Ertrag aus dem Eigentum des einzelnen tritt und H. wird, um der j. Gesamtheit zur beliebigen Aneignung zur Verfügung zu stehen.

b) Verlust einer Sache, die keine Kennzeichen (simanim) hatte oder unter solchen Umständen verlorengegangen ist, daß eine Wiedererlangung nicht wahrscheinlich erscheint. Der Verzicht des Eigentümers kann hier von Gesetzes wegen vermutet werden (s.  Fund). Ein solcher Verzicht kann aber auch im Fall des Diebstahls oder Raubes erfolgen, die gleichfalls unter gewissen Voraussetzungen bewirken, daß die Sache H. resp. Eigentum des Diebes wird.

c) Freigabe durch das Gericht (Bet din), das das Recht hat, dem Privaten Eigentum zu entziehen.  "Die Freigabe des Gerichts ist eine gültige Freigabe" (hefker bet din hefker, b. Gitt. 36b). Diese weitgehende Befugnis des Gerichts wird aus Jos. 19, 51 und Esr. 10, 8 abgeleitet (b.  Jew. 89b) und ist die Grundlage für zahlreiche Enteignungen der Behörden, die theoretisch auf der H.-Erklärung basieren.

4. Nachlaß eines Proselyten. Da im j. Recht die Stammesangehörigen im weitesten Sinn als Erben betrachtet werden (s. Erbrecht), beschränkt sich der Fall der Hinterlassung eines Vermögens ohne Erben auf den Proselyten, der zum J.-tum übergetreten ist und keine Kinder als Erben hinterläßt, da außer seinen nach dem Übertritt gezeugten Kindern seine übrigen Angehörigen nicht als Erben anerkannt werden (b. Kidd. 17b).  Solche Hinterlassenschaft gilt als H.

5. Unvollkommener Eigentumserwerb beim Verkauf eines Grundstücks von Nichtj. an J. kann gleichfalls bewirken, daß das Grundstück H. wird. Will z. B. jemand von einem Nichtj. ein Grundstück erwerben (was nur durch Ausfertigung einer Urkunde, Schetar, möglich ist) und bezahlt ihm vor der Übergabe der Urkunde den Kaufpreis, so daß der Verkäufer auf das Eigentum endgültig verzichtet hat, und eignet sich nun ein Dritter das Grundstück an, bevor es der Käufer durch die Urkunde erworben hat, so ist dieser Erwerb durch den Dritten rechtsgültig, weil dieser das vom Nichtj. verkaufte und von dem J. formell noch nicht erworbene Grundstück gleichsam als ein herrenloses Gut erworben hat (b. B. B. 54b). Dieser seltsame Rechtssatz, der sich bei der Kollision verschiedener Privatrechte ergeben kann, wird freilich bei den Dezisoren in mancher Hinsicht eingeschränkt (vgl. Ch. M. 194, 2).