Jüdisches Lexikon

WÖRTERBUCH DES

JÜDISCHEN RECHTS
 
 Neudruck 1980 der im "Jüdischen Lexikon" (1927-1930)
erschienenen Beiträge zum jüdischen Recht
 
 MARCUS COHN

 

 

KINDER UND ELTERN

Anerkennung und Pflege des engen geistigen und seelischen Zusammenhanges zwischen Eltern und Kindern charakterisierten die j. Familie: Die Schuld der Eltern wird noch am dritten und vierten Geschlecht geahndet; Gnade um der Eltern willen (sechut awot) wird den Kindern noch bis ins tausendste Geschlecht erwiesen (Ex. 20, 5. 6); Verfehlungen der Kinder fallen auf die Eltern zurück (Lev. 21, 9).

Die Solidarität zwischen Eltern und Kindern findet freilich ihre Schranken in der eigenen Verantwortlichkeit der Kinder, denen ein eigenes Persönlichkeitsrecht zusteht.  Der Grundsatz: "Die Eltern sollen nicht wegen der Sünden der Kinder, die Kinder nicht wegen der Sünden der Väter sterben; jeder soll für seine eigenen Sünden getötet werden" (Deut. 24, 16) spricht diese individuelle Verantwortlichkeit deutlich aus, und nach der Auffassung des Talmud (b. Sanh. 26a) wird eine Verfehlung der Eltern nur dann an den Kindern geahndet, wenn sie an den Sünden der Eltern weiterhin festhalten.  Sind auch die Rechte der Eltern nicht stark entwickelt (vgl.  Art.  Elterliche Gewalt), so ist doch der Anspruch der Eltern auf Liebe und Dankbarkeit von seiten der Kinder besonders ausgeprägt.  In den Zehngeboten wird die Elternverehrung unmittelbar hinter den Pflichten gegenüber Gott genannt (Ex. 20, 12; Deut. 5, 16; vgl. auch Lev. 19, 3). Die Lästerung der Eltern wird mit dem Tode bestraft (Ex. 21, 15. 17; Lev. 20, 9; Deut. 27, 16).

Im talmudischen Schrifttum wird sodann im einzelnen angedeutet, was die Eltern an Liebe und Ehrfurcht von den Kindern beanspruchen dürfen.  Auch die Tochter wird zu diesen Pflichten angehalten, muß aber, sobald sie verheiratet ist, in erster Linie ihren Pflichten gegenüber ihrem Ehemann nachkommen und ist insoweit von ihren Kindespflichten befreit.  Besondere Äußerungen der Elternverehrung sind im Laufe der spätj. Entwicklung das Sprechen des Kaddisch und Gedenken am Jahrzeitstage um verstorbene Eltern geworden.  Diese Verpflichtung der Verehrung der Eltern über deren Tod hinaus kommt auch in der Gesetzesbestimmung zum Ausdruck, daß die Kinder Schulden der Eltern begleichen sollen, damit deren Name geachtet bleibe.  Die Beziehungen der Kinder zu den Eltern werden so durch eine Elternverehrung geadelt, die im j. Volksleben zu besonderer Entfaltung gekommen ist und in der Haggada ihre besondere Weihe empfangen hat.  Sie bildete einst die Grundlage der j. Familie.
Kinder galten neben langem Leben als kostbarster Besitz.  Mögen die Alten auch, gleich allen Ackerbau treibenden Völkern, in den Kindern die verhältnismäßig billige Arbeitskraft geschätzt haben, so ehrten sie doch in ihnen, insb. im Sohne als dem Erhalter des Stammes und des Familienbesitzes (Gen. 15, 3), darüber hinaus auch die geistigen Erben ihrer Persönlichkeit, die Bürgen für die Aufrechterhaltung des Geschlechts nach dem Tode.  Die Witwe des kinderlos verstorbenen Mannes muß nach bibl.

Recht von seinem Bruder geheiratet werden, damit sein Name erhalten bleibt (s.  Leviratsehe). Der Frau galten die Kinder als Vollendung ihrer Weiblichkeit (Ps. 113, 9).  Kinderlosigkeit wird als schweres Unglück (l. Sam. 1, 16), Reichtum an Kindern als höchstes Gottesgeschenk und Gipfel des Glücks betrachtet (Ps. 127, 3; 128, 3). Nachkommen so zahlreich "wie die Sterne am Himmel" und wie "der Sand am Ufer des Meeres", der nicht gezählt werden kann, wurde den Stammvätern beglükkende Verheißung (Gen. 12, 2; 22, 17; 32, 13). Die rabbinische Tradition deutete die in der bibl.  Gesetzgebung häufig angedrohte Ausrottungs-Strafe Karet (vgl. z. B. Gen. 17, 14; Ex. 12, 15; Lev. 7, 20; 20, 27) mangels näherer Bez. der Todesart als Abzug von einigen Jahren von der urspr. bestimmten Lebenszeit, oder als Tod, ohne Kinder zu hinterlassen (vgl. Raschi zu Gen. 17, 14).  Von diesem Gesichtspunkt der Einschätzung des Wertes der Kinder ist auch der Heroismus zu begreifen, der in der Bereitschaft der Opferung Isaaks liegt (Gen. 22, 2ff.; vgl. auch Ri. 11, 34ff.). So erklärt sich auch, daß im j. Recht die rechtmäßige Abstammung eines Kindes nicht durch eine bestehende Ehe der Eltern bedingt ist; vielmehr wird die Blutsverwandtschaft durch die Zeugung begründet.  Das uneheliche Kind (Schetuki) ist daher schon im altj. Recht den anderen Kindern prinzipiell gleichgestellt.

Bis in die jetzige Zeit wird der körperlichen und geistigen Erziehung des Kindes, die in Bibel und Talmud eine hervorragende Rolle spielt, auch in den ärmeren j. Kreisen eine Pflege und Sorgfalt zuteil, deren Aufwand das in nichtj. Kreisen übliche Ausmaß beträchtlich übersteigt.

Die Wertschätzung der Kinder führt folgerichtig dazu, daß auch den Eltern ihnen gegenüber erhebliche Pflichten erwachsen.  An erster Stelle steht die Verpflichtung, die Kinder geistig und körperlich gut zu erziehen, sie zur Beobachtung der jüdischen Gesetze zeitig anzuhalten und ihnen mit gutem Beispiele voranzugehen.  Die Mutter soll ihr Kind stillen; im Talmud wird hierfür eine Dauer von 24 Monaten vorgesehen, während welcher ihr auch das Eingehen einer weiteren Ehe untersagt ist (s.  Eherecht).

Als Pflichten des Vaters werden die Beschneidung des Sohnes und die Auslösung des Erstgeborenen (Pidjon ha-ben) erwähnt.  Sodann ist der Vater verpflichtet, die Kinder in der Tora zu unterrichten, sie einen Beruf lernen zu lassen, sie zu ernähren (resp. im Falle der Ehescheidung ihnen Alimente zu bezahlen) sowie sie zu verheiraten (b. Kidd. 29a ff.). Die Tochter insbesondere muß er mit einer Mitgift ausstatten.

Weitere Einzelheiten s. Eherecht, Elterliche Gewalt, Elternmord, Mitgift, Mutterrecht.