Jüdisches Lexikon

WÖRTERBUCH DES

JÜDISCHEN RECHTS
 
 Neudruck 1980 der im "Jüdischen Lexikon" (1927-1930)
erschienenen Beiträge zum jüdischen Recht
 
 MARCUS COHN

 

JUNGFRAU

(betula) ist das Mädchen, das sich noch keinem Manne hingegeben hat (ascher lo jadea isch); auch die Verlobte (arussa) nach vollzogenem Erussin-Kidduschin-Akt (s. Eherecht) wird bis zu der erst mit dem Chuppa-Nissuin-Akt verbundenen tatsächlichen Verehelichung noch als J. betrachtet (vgl. auch Jew. 61b).  Die Jungfräulichkeit, deren Integrität durch den ersten Beischlaf verlorengeht, ist bei Kindern unter drei Jahren nach Ansicht des Talmud wiederherstellbar; ein in diesem Alter mißbrauchtes Mädchen verliert daher den Charakter einer J. nicht (Nid. 5, 4; b. Nid. 45a). Mit betula wird auch, was durch die altj. Sittlichkeit erklärlich erscheint, jedes Mädchen schlechthin bezeichnet.  Im Gegensatz hierzu heißt (beula) die Geehelichte. Die Jungfräulichkeit wird in einer Tossefta (Toss. Schew. 3, 8) erwähnt beim Mädchen, das noch nie einem Manne sich hingegeben hat, beim Erdboden, der noch nie bebaut, und beim Baum, der noch nie beschnitten worden ist.
Die Vergewaltigung (s. Notzucht) einer J. wird mit einer Geldstrafe an den Vater der Vergewaltigten, der Verpflichtung, sie zu ehelichen (falls sie damit einverstanden ist), und dem Verbot für den Ehemann, sich von ihr scheiden zu lassen, gesühnt (Deut. 22, 29).
Jeder Ehemann durfte von seiner als J. geehelichten Frau voraussetzen, daß ihre Jungfräulichkeit unverletzt sei.  War diese Voraussetzung nicht zutreffend, so wurde an ihr die Todesstrafe durch Steinigung vollzogen (Deut. 22, 20ff.); nach der Auffassung des Talmud (b.  Ket. 4a) freilich nur dann, wenn ihr nachgewiesen wurde, daß sie, als sie bereits "verlobt", d.h. angetraut (arussa) war, mit einem Dritten geschlechtlich verkehrt hatte.  Falls jedoch die Behauptung des Ehemannes, die Jungfräulichkeit habe ihr gefehlt, sich als Verleumdung erwies, wurde er mit einer gleichfalls an den Vater zu zahlenden Geldstrafe und einem unbegrenzten Scheidungsverbot bestraft (Deut. 22, 19).
Der Hohepriester durfte nur mit einer J. eine Heirat eingehen (Lev. 21, 7), während eine andere Priesterehe auch mit einer Witwe, jedoch nicht mit einer Geschiedenen zulässig war.  Die "Verunreinigung" (d. h. die Berührung eines Leichnams) eines Priesters an seiner verstorbenen Schwester ist nur gestattet, solange sie J. ist; nach deren Verheiratung (nach b. Jew. 60a sogar nach dem Erussin-Akt) darf er sich ihretwegen nicht mehr verunreinigen (Lev. 21, 3).
Auch die Feier bei der Hochzeit ist verschieden, je nachdem, ob die Braut eine J. ist oder zuvor bereits verheiratet war.  Die J. zog mit einem Schleier (hinuma) und aufgelöstem Haar in das Haus ihres Gatten; nach einer Ansicht wurden bei der Hochzeit einer J. geröstete Ähren verteilt (Ket. 2, 2; b. Ket. 17b).  Die Hochzeit einer J. fand meist am Mittwoch statt, damit der Ehemann seine Klage wegen der verletzten Jungfräulichkeit eventuell in der jeweils am Donnerstag stattfindenden Gerichtssitzung vorbringen könne; die Feier dauerte 7 Tage. In der Ketubba wurden für eine J. mindestens 200 Sus, für eine Witwe 100 Sus vorgesehen.
Bei manchen Völkern ist ein altes Herrenrecht ermittelt worden, wonach dem Gewalthaber die Befugnis zustand, an der Neuvermählten zuerst den Beischlaf zu vollziehen; dieses "jus primae noctis" scheint, wie aus einigen Bemerkungen im talmudischen Schrifttum hervorgeht, auch von seiten der heidnischen Machthaber gegenüber j. J. angewandt worden zu sein.  In b. Ket. 3b wird berichtet, daß festgesetzt wurde, die Hochzeit von J. nicht, wie im allgemeinen vorgesehen, am Mittwoch, sondern am Dienstag abzuhalten, um der Gefahr zu entgehen, die jeder J. drohte, "als nämlich verhängt worden war, eine Jungfrau, die geehelicht wird, werde erstmals vom Kriegsobersten (Hegemon) beschlafen" (vgl. j. Ket. 25c).
In Megillat Ta-anit (Kap. 6) wird bemerkt, Mattathias, der Stammvater der Hasmonäer, habe seinen Freiheitskrieg begonnen, um seine Tochter vor dieser Schändung zu bewahren.
Auch Midraschim (z.B. Jalk. 1, 109) wissen von diesem jus primae noctis zu erzählen, und die im Buch Judit verherrlichte Heldentat setzt einen solchen von Gewalthabern durchgesetzten Anspruch voraus.  Die besondere Anteilnahme der Frauen am Chanukkafeste wird auch darauf zurückgeführt, daß durch jenen Freiheitskampf die j. J. von diesen Vergewaltigungen befreit wurde (b. Sabb. 23a).