Jüdisches Lexikon

WÖRTERBUCH DES

JÜDISCHEN RECHTS
 
 Neudruck 1980 der im "Jüdischen Lexikon" (1927-1930)
erschienenen Beiträge zum jüdischen Recht
 
 MARCUS COHN

 

ELTERLICHE GEWALT

Das j. Recht kennt für diesen ihm fremden Begriff keinen Ausdruck.  Während die Rechte anderer antiker Völker den Eltern, insbesondere dem Vater, das völlige Verfügungsrecht über ihre Kinder zugestehen, wird im j. Recht das Persönlichkeitsrecht der Kinder anerkannt.  Die römischrechtliche patria potestas findet sich hier nur in beschränktem Maße hinsichtlich der minderjährigen, d. h. noch nicht 12 Jahre alten Tochter, die der Vater zu verehelichen berechtigt ist und deren Gelübde (Neder) er auflösen kann (Num. 30, 4f.; vgl.  Handlungsfähigkeit). Der Vater ist ferner berechtigt, im Falle der eigenen Not die Tochter zu verkaufen (Ex. 21, 7ff.), jedoch muß sie beim Eintritt der Reife oder beim Tode ihres Herrn ihre Freiheit wiedererlangen, es sei denn, daß ihr Herr oder dessen Sohn eine legitime Ehe mit ihr eingehen.  Das Züchtigungsrecht ist weniger ein Ausfluß der e. G. als der Erziehungspflicht der Eltern; jedoch ist darauf zu achten, daß das Ehrgefühl der Kinder nicht verletzt wird. Religionsgesetzlich bedeutsam ist, daß die Eltern nicht berechtigt sind, von ihren Kindern etwas zu verlangen, was den j. Gesetzen widerspricht (B.  M. 2, 10; b. Jew. 5b).  Diese Norm wird aus der Bibelstelle Lev. 19, 3 abgeleitet, wo das Gebot der Elternehrung mit dem der Sabbatbeobachtung verknüpft wird.

Streng untersagt ist den Eltern, die Kinder zu töten, zu opfern oder für unzüchtige Zwecke preiszugeben; das j. Schrifttum kennt denn auch - im Gegensatz zu antiken Völkern - den Kindesmord nicht.  Die Eltern haben lediglich das Recht, den unbändigen und widerspenstigen Sohn (ben sorer umore) dem Gericht zur Bestrafung zu übergeben (Deut. 21, 18ff.), das nach Prüfung des Falles die Todesstrafe (Steinigung) an dem mißratenen Sohn vollziehen soll.  Ein gegen die Eltern ausgesprochener Fluch oder ein tätliches Vergreifen an den Eltern wurde mit dem Tode bestraft (Ex. 21, 15. 17; Lev. 20, 9); aber auch hier durfte die Todesstrafe nicht durch die Eltern selbst ausgeführt werden, sondern mußte durch das Gericht ausgesprochen und vollzogen werden; den Eltern stand nur das Klagerecht zu.  In zivilrechtlicher Beziehung ist festgesetzt, daß das, was Kinder erwerben oder finden, den Eltern bzw. dem Vater gehört (B.  M. 1, 5).  Diese EIternrechte hören jedoch auf, sobald die Kinder mündig werden bzw. sich selbst ernähren.  Diesen Rechten steht die Pflicht des Vaters auf Gewährung des Lebensunterhalts gegenüber (s. Alimente).

Finden sich somit im j. Recht die elterlichen Rechte nicht sonderlich ausgeprägt, so wird hier um so mehr auf die innigen Beziehungen zwischen Kindern und Eltern Wert gelegt, die einerseits in der Verehrung der Eltern und der ihnen gegenüber zu übenden Pietät zum Ausdruck kommt, andererseits in der Elternliebe, die nach j. Auffassung keine Grenzen kennt, und in der Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen und zu ernähren.