Jüdisches Lexikon

WÖRTERBUCH DES

JÜDISCHEN RECHTS
 
 Neudruck 1980 der im "Jüdischen Lexikon" (1927-1930)
erschienenen Beiträge zum jüdischen Recht
 
 MARCUS COHN

 

 

AGUNA  (verlassene Ehefrau)

die an den verschollenen Ehemann gebundene Frau (vom hebr.  Verbum agan, absperren, hindern, eine Frau vereinsamt lassen).  Urspr. wird der Ausdruck wohl nur eine Frau bez. haben, die überhaupt keinen Mann gefunden hat (so in Rut 1, 13).  Zur Zeit des Talmud wird jedoch unter A. eine Frau verstanden, die sich nicht wieder verheiraten kann, weil der Tod ihres früheren Mannes nicht einwandfrei festgestellt worden ist. Entsprechend bedeutet dann auch igguna die Verlassenheit oder Eheverhinderung, d. h. die rechtliche Unmöglichkeit einer nochmaligen Eheschließung. Da nach j. Recht die Scheidung ohne Mitwirkung des Mannes nicht durchgeführt werden kann (freilich genügt auch die Mitwirkung des abwesenden Ehemannes durch Übersendung eines von ihm persönlich in Gegenwart von zwei Zeugen in der vorgesehenen Form ausgefertigten Scheidebriefes), hat die von ihrem Manne. verlassene Frau an sich keine Möglichkeit, allein das Eheverhältnis zu lösen, und kann daher auch keine neue Ehe eingehen.  Im Talmud zeigt sich nun deutlich die Tendenz, durch erleichternde Verordnungen der A. die Wiederverheiratung zu ermöglichen; "wegen der Bindung der Ehefrau haben die Rabbinen ihr Erleichterungen gewährt" (b. Jew. 88a; b. Gitt. 3 a).

Zunächst wird die erwähnte Tendenz auf dem Gebiete des Ehescheidungsrechts durch eine Fülle von Verordnungen befolgt. So wird z. B. bei der Überbringung eines auswärts ausgefertigten Scheidebriefes nicht, wie sonst, die Erklärung von zwei Zeugen verlangt; es genügt vielmehr, wenn der Vertreter vor dem Gericht erklärt: "Vor mir wurde der Get (Scheidebrief) geschrieben und geregelt" (b. Gitt. 3a). Auf gleiche Motive geht die Takkana von Rabban Gamaliel zurück (Gitt. 4, 1), der anordnete, daß der Ehemann den seinem Vertreter zur Überbringung an seine Ehefrau bereits ausgehändigten Scheidebrief nicht mehr zurückziehen bzw. als ungültig erklären dürfe, auch dann nicht, wenn im Zeitpunkt des Widerrufs die Ehefrau den Scheidebrief noch nicht erhalten hat, "damit sie nicht an den Mann gefesselt bleibe" und aus Besorgnis, der Scheidebrief könne widerrufen worden sein, eine Wiederverheiratung unterlasse (b.  Gitt. 33a). Die Annullierung durfte aufgrund dieser Verordnung vielmehr lediglich in Gegenwart des Vertreters, der den Scheidebrief zu überbringen hatte (s.  Vertretung), erfolgen. Auch die Anordnung, daß ein verlorengegangener Scheidebrief im Gegensatz zu den Bestimmungen der Mischna (B.  M. 1, 7) der Ehefrau zurückgegeben werde, wird damit begründet, daß sie nicht unverheiratet sitzen bleibe (b.  B. M. 19a).
Vor allem aber ging die Tendenz der j, Rechtsgelehrten dahin, in den Fällen unfreiwilliger Trennung der Ehegatten und der Verschollenheit des Ehemannes die Ehefrau davor zu schützen, daß sie keine A. werde.  Da das j. Recht ein Aufgebotsverfahren der Verschollenheit nicht kennt, war es der Ehefrau erst dann gestattet, wieder zu heiraten, wenn der Tod des Ehemannes erwiesen war; jedoch war es möglich, die für diese Beweisformen sonst geltenden prozessualen Grundsätze zu mildern.  Im Gegensatz zu der allgemeinen Regel, daß nur durch einwandfreie Zeugen im Gebiete des Eherechts Beweise erbracht werden, wird hier von diesem klassischen Zeugenbeweis abgesehen und ein Indizienbeweis als rechtlich genügend erklärt.

Bei dieser Regelung ging man vor allem von der Erwägung aus, daß es unwahrscheinlich ist, daß unwahre Erklärungen hinsichtlich des Zivilstandes abgegeben werden, und daß insb. auch der Ehefrau Glauben geschenkt werden darf, da die Folgen ihrer Wiederverheiratung bei Lebzeiten ihres ersten Mannes für sie außerordentlich nachteilig wären (Jew. 10, 1); sie müßte sich nämlich dann vom ersten und vom zweiten Manne unter Verzicht auf ihre ehegüterrechtlichen Ansprüche trennen (b.  Jew. 87b ff.), und das aus dieser unzulässigen Ehe hervorgehende Kind wäre ein Mamser. Wegen der Erschwerung (Chumra), die man ihr "am Ende" - wenn der Verschollene wieder heimkehrt - auferlegt, genießt sie "am Anfang" wenn sie Erklärungen abgibt, die ihr die Wiederverheiratung ermöglichen - eine Erleichterung (kulla), vgl. b. Jew. 88a.
Die Indizienbeweise, die zur Feststellung des Todes des Ehemannes genügen und aufgrund deren das Gericht der Ehefrau die Wiederverheiratung gestatten darf, sind im einzelnen folgende:

1. Aussage eines einzigen Zeugen (ed echad).

2. Aussagen von Personen, die sonst zeugnisunfähig sind, z. B. Frauen, Verwandte, Nichtj., Sklaven usw. (pessule edut) falls die Erklärungen in harmloser Form (messiach lefi tumo) abgegeben werden.

3. Aussagen, die nicht auf eigenen Wahrnehmungen, sondern auf Mitteilungen eines Dritten beruhen, indirektes Zeugnis (ed mipi ed).

4. Die Aussage der Ehefrau selbst.

5. Die Urkundenform ist zugelassen, so daß also auch schriftliche Mitteilungen über Wahrnehmungen als genügender Indizienbeweis gewertet werden dürfen, während sonst auf dem Gebiete des Eherechts alle Erklärungen mündlich abgegeben werden müssen.  Im Zusammenhang damit wird auch vielfach die religionsgesetzliche Glaubwürdigkeit der Zivilbehörden erörtert.

Ferner werden auch bei der Identifizierung einer Leiche durch die Gerichtsbehörde gewisse Erleichterungen vorgesehen.  Hierbei darf auf den Gesamteindruck (tewiut ajin)  wie auch auf spezielle Erkennungszeichen (simanim) abgestellt werden; letztere werden in der nachtalmudischen Lit. außerordentlich eingehend behandelt.  Das j. Gericht darf jedoch von diesen Erleichterungen nur dann Gebrauch machen, wenn keinerlei Anzeichen einer Irreführung oder einer Selbsttäuschung der Zeugen vorliegt.

Einen bedeutsamen Raum nehmen die mit der A. in Zusammenhang stehenden Fragen in der Responsenliteratur (Scheelot uteschuwot) ein; genannt seien die Responsen-Sammlungen von Joel Sirkes, gen. Bach; Ezechiel Landau, bekannt unter dem Namen seines Werkes "Noda bijhuda"; Moses Sofer, benannt nach seinem Werke "Chatam sofer"; dessen Sohn, nach seinem Werke "Ketaw sofer" gen.; sowie von Isaak Elchanan Spektor in seinem Werke "En Jizchak".
Als bes. verdienstlich haben es die ostj. Gaonen stets erachtet, in den ihnen vorgelegten A.-Fragen erleichternd zu entscheiden, wie denn auch gelehrt wird: "Wer einer A. Schwierigkeiten bereitet, mit dem ist der Geist der Weisen nicht zufrieden." So wird z. B. von Elieser Gordon in Telschi (gest. 1908 in London), der in der 2. Hälfte des 19.  Jh. eine führende gaonäische Autorität war, erzählt, er habe mit Genugtuung erklärt, daß er in allen ihm vorgelegten A.-Fragen eine halachische Möglichkeit gefunden habe, der A. die Wiederverheiratung zu gestatten.

Nach Beendigung des Weltkrieges wurde wiederholt versucht, die Lage der Agunot zu mildern, deren Zahl infolge der vielen Gefangenen und Vermißten aus dem Heere des ehemaligen russ.  Reiches bes. groß war, wenn es auch bisweilen gelang, durch die amtlichen Angaben der einzelnen Truppenteile und durch Zeugenaussagen von Kameraden den Tod von vermißten Ehemännern festzustellen. Vielfach haben auch in den überseeischen Ländern dort lebende Ehemänner während der in manchen Kriegsjahren unterbrochenen postalischen Verbindungen mit den östlichen Heimatländern neue Ehen geschlossen und sich um ihre in Europa lebenden Frauen, die dadurch unglückliche Agunot wurden, nicht bekümmert. Die j. Presse stellte sich wiederholt in den Dienst dieser Hilflosen, und es gelang ihr bisweilen, den ungetreuen Ehemann durch Personalbeschreibung und Photographie ausfindig zu machen.  So wurden auch auf Veranlassung der Delegierten von ostj. Rabbinerverbänden Verhandlungen mit den Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika angebahnt, um durch Einrichtung eines besonderen Nachrichtendienstes die Ermittlung von verschollenen, in Amerika lebenden Ehemännern zu erleichtern.