Jüdisches Lexikon

WÖRTERBUCH DES

JÜDISCHEN RECHTS
 
 Neudruck 1980 der im "Jüdischen Lexikon" (1927-1930)
erschienenen Beiträge zum jüdischen Recht
 
 MARCUS COHN

 

  RECHT, JÜDISCHES
 
  Inhaltsübersicht

1. Einteilung des Rechtsstoffes

2. Geschichte der Rechtsquellen

3. Entwicklung des Rechts

4. Moderne Forschungen über j. Recht

5. Die Geltungskraft des j. Rechts

6. Allgemeine Charakterisierung
 

1. Einteilung des Rechtsstoffes

Die in der Bibel gebrauchten Ausdrücke für R. sind mischpat, und din, Mischpat ist gegenüber din wohl das ältere R., das zunächst nur mündlich überliefert wurde, und geht vielleicht auf das älteste Gewohnheitsrecht zurück, das der Richter anzuwenden hatte, und das sich die schöpferische Kraft bewahrte. Die Unterscheidung dieser beiden Ausdrücke in den Quellen ist zwar nicht streng durchgeführt; doch deuten die meisten Quellen auf din als das geschriebene Gesetz und auf mischpat als das umgeschriebene Gesetz hin. Der Richter (Schofet) war der Schöpfer des R.; "Recht und Gerechtigkeit" (Zedek umischpat) wurden gemeinsam gefordert (Spr. 2, 9). Din weist wohl mehr auf den geschriebenen Rechtssatz hin. In Deut. 17, 8 wird es auf die eigentliche "bürgerliche" Rechtssache begrenzt. In Jer. 21, 12 werden Din und Mischpat verbunden, in Est. 1, 13 Religionssatzungen und R. (dat wadin). Die Versammlungsstätte resp. der Gerichtshof selbst wird bet din genannt. Auch in allen weiteren Ausdrücken des talmudischen Schrifttums (Bezeichnung der Parteien, der Anwälte usw.) kommt immer wieder der Ausdruck Din zur Anwendung, während das ältere Wort Mischpat in Vergessenheit gerät.

Maimonides (More newuchim 111, 26) teilt das j. Normensystem anschließend an Deut. 4, 8 in solche Gesetze ein, deren Nutzen den Menschen einleuchtet (mischpatim), und solche Gesetze, deren Grund uns unverständlich ist (chukkim). Auch gibt er in Mischne Tora (Jad hachasaka) ein eigenes System des gesamten Rechtsstoffes, das freilich weniger nach juristischen als nach philosophischen Gesichtspunkten geordnet ist.

Das jüd. R. ist ein Bestandteil des gesamten j. Normensystems, das nicht nur die eigentlichen "bürgerlichen" Rechtsverhältnisse, sondern das gesamte Leben in all seinen Erscheinungen umfaßt. Insbes. kennt das J.-tum keine Scheidung zwischen religiösem und weltlichem R. Auch die Ethik ist kodifiziertes R.; sie unterscheidet sich vom R. im engeren Sinne nur insoweit, als dieses erzwingbar ist. Die begrifflich-formelle Ablösung der rein juristischen Gesichtspunkte aus ihrer Verflochtenheit mit den religiös-ethisehen Elementen vollzieht sich nur langsam. Das R. im engeren Sinn umfaßt alle Bestimmungen, welche die gegenseitigem Beziehungen der Menschen zueinander sowie der Gemeinschaft zum einzelnen betreffen, oder die in streitigen Fällen die Entscheidung regeln. In der Bibel ist die Klassifizierung dieser Bestimmungen noch nicht besonders ausgeprägt, wie dies später im talmudischen Schrifttum geschehen ist, das etwa folgende Einteilung kennt:

a) Vermögensrecht (dine mamonot), umfassend alle Gesetze das Vermögen betreffend. Hierzu gehört auch das Zivilprozeßrecht sowie der vermögensrechtliche Teil des Eherechts und des Erbrechts; ferner die Bestimmungen betr. Geldstrafen (Kenass).

b) Familienrecht (dine mischpacha) umfassend alle Gesetze betreffend den Personenstand, Ehe und Familie.

c) Strafrecht (dine nefaschot), umfassend alle Gesetze über die Bestrafung von Personen (außer Geldstrafen) sowie über den Strafprozeß.

d) Staatsrecht (dine hamalchut) umfassend alle Gesetze betreffend den Staat als solchen, Krieg und Frieden, die Einsetzung des Königs und der Richter, die Bodengesetzgebung, das Heiligtum sowie das Vermögen der Gemeinschaft und des Heiligtums (hekdesch).

Bei der Gliederung des Rechtsstoffes in Mischna und Talmud wird dies Einteilung zwar noch nicht streng durchgeführt; aber doch kennt schon die Mischna manche Klassifizierung, wie z. A. die Trennung zwischen Zivil- und Strafprozeß (Sanh. 1, 1; 4, 1). Eine systematische Einteilung zeigen erst die späteren Kodifikationen von Maimonides, Tur (Jakob ben Ascher) und Josef Karo; aber auch sie lehnen eine prinzipielle Differenzierung zwischen Religions- und Rechtsnormen ab und behandeln beide Stoffgebiete einheitlich.

Im folgenden kann hier nur auf die allgemeine Entwicklung des Rechts und seine Charakterisierung, auf die Geschichte der Rechtsquellen und der Rechtsforschung eingegangen werden. Es werden folgende Institutionen behandelt:

Personen-, Erb- und Familienrecht in den Artikeln: Adoption, Aguna, Alimente, Androgynos, Cheresch schote wekatan, Chuppa, Eherecht, Elterliche Gewalt, Erbrecht, Erstgeburtsrecht, Findling, Handlungsfähigkeit, Jungfrau, Ketubba, Kinder und Eltern, Leviratsehe, Mamser, Mischehe, Mitgift, Me-un, Monogamie, Mutterrecht, Polygamie, Priesterehe, Rechtsfähigkeit, Schetuki, Testament, Tumtum, Verschollenheit, Waise, Witwe.

Obligationen- und Sachenrecht in den Artikeln: Anweisung, Arba ammot, Arbeiter, Arbeitsvertrag, Arewut, Assmachta, Bedingung, Besitz, Bote, Bürgschaft, Chasaka, Darlehen, Eigentum, Fund, Geschäftsführung ohne Auftrag, Gesellschaft, Haftung der Verwahrer, Handelsrecht, Hefker, Inhaberpapier, Irrtum, Ir-ur, Kauf, Kinjan, Leihe, Makler, Mamrem, Miete, Nachbarrecht, Nesikin, Ona-a, Oness, Pacht, Pfandrecht, Prosbul, Rechtsgeschäft, Reschut, Scheingeschäft, Schenkung, Schetar, Schuldurkunde, Sechija, Spiel und Wette, Tausch, Treuhänder-, Verlust, Vertrag, Vertretung, Verwahrung, Viehverstellung, Widerruf.

Prozeßrecht in den Artikeln: Appellation, Beweis, Din tora, Eid, Fiktion, Freisprechung, Gerichtswesen, Prozeßrecht, Präsumtion, Priorität, Richter, Schiedsrichter, Vergleich, Wohnsitz, Zeugen.

Strafrecht in den Artikeln: Anstiftung, Beleidigung, Bestechung, Betrug, Diebstahl, Elternmord, Einbruch, Fahrlässigkeit, Freiheitsstrafe, Gefängnis, Geldstrafe, Gesetzeskonkurrenz, Geständnis, Grenzverschiebung, Hehlerei, Konfiskation, Malkut, Meineid, Mord, Notwehr, Notstand, Notzucht, Raub, Selbstmord, Strafrecht, Todesstrafe, Unterschlagung, Verdacht, Veruntreuung, Vorsatz.

2. Geschichte der Rechtsquellen

Die Quellen des j. Rechts sind der Pentateuch (die tora schebichtaw) schriftliche Lehre) und die Tradition (die mündliche Lehre, tora schebeal pe) Die pentateuchische Gesetzgebung setzt schon eine bestimmte Rechtsordnung voraus, an welche sie anknüpft, indem sie frühere Rechte zum Teil aufhebt oder fortbildet oder neues Recht setzt. Diese schriftlich niedergelegte Gesetzgebung wird ergänzt durch eine Fülle von Traditionen, welche die einzelnen Gesetze interpretieren und vervollständigen. Die älteren im Traditionsrecht begründeten Gesetze werden auch als Toragesetze (diwre tora) bezeichnet, denen später die Gesetze der Schriftgelehrten (diwre soferim) sowie die von den Rabbinen (midderabanan) herrührenden Verordnungen (Takkana) folgen, die insgesamt als rabbinisches Recht bezeichnet werden.

Die Traditionen, insbesondere die überlieferten Interpretationen des Gesetzes wurden in den Lehrhäusern vorgetragen und mündlich gesammelt. Eine einheitliche schriftliche Sammlung zu veröffentlichen war jedoch zunächst untersagt, wohl auch deshalb, um neben der Tora keine neuen Kodifikationen zu schaffen. Infolge von Meinungsverschiedenheiten über einzelne Traditionen und Interpretationen, die wohl durch die politischen und geistigen Kämpfe sowie den Verlust der höchsten Instanz (bet din hagadol) bedingt waren, entstanden etwa hundert Jahre vor der Zerstörung des j. Staatslebens die Schulen von Hillel und Schammaj, deren Meinungsverschiedenheiten auch auf dem Gebiete des Rechts zum Ausdruck kamen. Nach Auflösung des Staates gewann in Jawne zur Zeit von R. Gamaliel II. die hillelitische Richtung die Oberhand (b. Sanh. 88b). Dort wurde schon ein Versuch gemacht, das unbestrittene Traditionsrecht zu sammeln und für Streitfragen einen Ausgleich zu finden oder durch Majoritätsbeschlüsse eine Entscheidung zu treffen. Infolge der unter Barkochba entstandenen Wirren ist jedoch dieser Versuch gescheitert, und erst etwa hundert Jahre später von R. Juda Hanassi (einem Enkel von R. Gamaliel II.) ist diese gewaltige Arbeit zum Abschluß gekommen.

Die Mischna ist eine Gesetzessammlung, die auch die Ansichten der Minderheiten erwähnt; der Charakter der Kodifikation fehlt ihr, zumal R. Juda und seinem Kollegium auch die Gesetzgebungskompetenz nicht zustand. Die außerhalb der Mischna verbliebenen Sätze wurden später in den anderen Sammlungen (Tossefta, Barajta usw.) noch zusammengestellt, von denen dann der Talmud vielfach zur Erläuterung der Mischna oder zur Abänderung einzelner Mischna-Sätze Gebrauch gemacht hat. Die praktische Rechtsanwendung hatte wiederholt zu neuen Situationen des sozial-politischen Lebens Stellung zu nehmen, war doch den j. Gelehrten die zivile Gerichtsbarkeit verblieben, eine Macht, die um so stärker war, als diese Richter gleichzeitig auch die religiösen Führer der Gemeinschaft waren.

Die strittigen Meinungen werden in der Mischna mit dem Namen ihres Autors angeführt; ist kein Autornamen genannt, so ist das Gesetz den "Weisen", d. h. der Mehrheit der Gelehrten zuzuschreiben. Die Gesetzessammlung der Mischna zeigt zwar noch eine völlige Vermischung von weltlichem und religiösem Recht. Gleichwohl sind aber bereits die Anfänge einer systematischen Einteilung des Stoffes zu erkennen. Von den 6 Abteilungen der Mischna behandeln der dritte Teil Naschim und der vierte Teil Nesikin fast ausschließlich Fragen des j. Rechts. Von den einzelnen Abschnitten (Traktaten) dieser beiden Abteilungen seien genannt aus Naschim: Jewamot (Leviratsehe); Ketubbot (Ehevertrag); Kidduschin (Eheschließung); Gittin (Ehescheidung); Sota (Ehebruch). Aus Nesikin: Baba kamma, Baba mezia, Baba batra (Schadenersatz und Vermögensrecht); Sanhedrin und Makkot (Strafrecht und Prozeßrecht); Schewuot (Eide); Awot (Ethischer Traktat). Die Beschäftigung mit dem j. Vermögensrecht wird denn auch empfohlen, weil gerade diese Normen zur Schulung des Verstandes beitragen.

Die Gesetzessammlung der Mischna, welche die schriftliche und mündliche Lehre zu einer organischen Einheit werden ließ, wurde für die kommenden Generationen die Grundlage für die weiteren Forschungen auf allen Gebieten des Rechtslebens; die nächste Aufgabe war die Auslegung der Mischna: Der innere Zusammenhang zwischen den verschiedenen Halachot und Meinungsverschiedenheiten sollte aufgedeckt, scheinbare Widersprüche durch scharfsinnige Unterscheidungen wieder beseitigt werden. Die Schulen dieser Ausleger (Amoräer) erachteten es ferner als ihre Aufgabe, die logischen Operationen zu zeigen, mittels deren man zu bestimmten Resultaten kam, sowie auf die einzelnen Kontroversen in den verschiedenen Gesetzessammlungen einzugehen und auch Ansichten der Minderheit, selbst wenn die Rechtspraxis sich bereits gegen sie entschieden hatte, zu begründen. Ferner haben sie selbständige Bestimmungen, die ein entwickelter Verkehr erforderte, aufgestellt, die dann vom Volke akzeptiert wurden. Diese Forschungen haben dann im 4. und 5. Jh. im jerusalemischen und babylonischen Talmud eine weitere Gestaltung erfahren.

Auch der Talmud ist kein Gesetzbuch, etwa von einer j. legislativen Behörde geschaffen. Jede einzelne Norm mußte vielmehr aus irgendeiner Stelle aus dem Pentateuch oder der Traditionslehre der Mischna deduziert werden. Gegen Normen, die sich in Tora und Mischna vorgezeichnet fanden, konnten die Amoräer nicht verstoßen; dagegen stand es ihnen frei, bestehende Normen zu erweitern und auf normenfreiem Gebiet nach freiem Ermessen durch Aufstellung von neuen Satzungen vorzugehen. Der Talmud ist eine ausführliche Sammlung der Theorien aller früheren Schulen nebst ihren Argumenten und Diskussionen. In der Form ist er ein Protokollbuch der Diskussionen, die in den verschiedenen Lehrhäusern stattgefunden haben. Etwa hundert Jahre später haben die Saboräer letzte Entscheidungen in den Talmud eingefügt und ihm seine heutige Gestalt gegeben. In ihrer Zeit ist auch eine Anzahl halachischer und ethischer Vorschriften zu den sogenannten kleinen Traktaten (Massechtot ketannot) zusammengestellt worden, welche in der üblichen Talmudausgabe am Ende des IV. Teiles (Nesikin) beigefügt wurden.

Aus der Zeit der Gaonim (vom 7. bis Mitte des 11. Jh.) seien das halachisch-haggadische Werk Scheeltot von Achaj aus Schabbecha und die Gesetzessammlung Halachot gedolot des Simon aus Kajara genannt. Einer der letzten Gaonim, R. Haj, hat besondere Werke über jüdische Rechtsgebiete (Kauf und Verkauf sowie Eidesleistungen) geschrieben. - Von den späteren Rechtslehrern des Talmud in Spanien, Frankreich, Deutschland und Polen, die als Kommentatoren des Talmud und Kodifikatoren die jüdische Rechtswissenschaft bereicherten, seien genannt: R. Chananel und R. Nissim, die Leiter der Talmud-Schule in Kairuan (Nordafrika); R. Isaak Alfassi aus Fez (Marokko), nach der üblichen Abbreviatur "Rif" genannt, der den halachischen Teil des Talmud, soweit er noch Geltung hat, zusammenstellte; R. Josef ibn Migasch; R. Moses b. Maimon (Maimonides), der die erste systematische Enzyklopädie des talmudischen Rechts schuf ("Jad hachasaka" oder "Mischne tora"); R. Abraham b. David 111. (Rabad); R. Moses b. Nachman (Nachmanides oder Ramban); R. Salomo ibn Aderet (Raschba); R. Nissim Gerondi (Ran); R. Gerschom in Mainz, bekannt durch seine Verordnungen und als Einberufer der Wormser Rabbinerversammlung; R. Salomon ben Isaak (Raschi) aus Worms; R. Jakob b. Me-ir Tam, ein Enkel Raschis, und die von ihm begründete Schule der Tossafisten, d. h. der Verfasser von Tossafot (= Zusätze) in Frankreich; R. Moses von Coucy (Semag); R. Me-ir aus Rothenburg (Maharam) und dessen hervorragender Schüler R. Ascher ben Jechi-el (Rosch); R. Mordechaj b. Hillel; R. Jakob ben Ascher, der Sohn des Rosch, der unter dem Titel "Arba Turim" (4 Reihen) einen Kodex des gesamten j. Rechts veröffentlichte. Er führt bei jedem Rechtssatz die vorkommenden verschiedenen Ansichten der nachtalmudischen Gelehrten in Kürze an und entscheidet sich für eine derselben. Das Werk ist in vier Abteilungen eingeteilt, von denen der 3. Teil Ewen ha-eser und der 4. Teil Choschen hamischpat j. Recht behandeln. Nach der Abfassung der Turim bestrebten sich die meisten Rechtsgelehrten, durch Kommentierung dieses Werkes und durch Erlaß von Responsen auf eine Abrundung und feste Gestaltung des R. für die Praxis hinzuwirken. Endlich verfaßte Josef Karo, der zuvor Maimonides und die Turim kommentiert hatte, um die Mitte des 16. Jh. ein neues, nur geltendes Recht umfassendes Gesetzbuch, "Schulchan aruch", zu dem ihm die "Arba Turim" von R. Jakob sowohl an Methode wie an Einteilung als Muster dienten. Durch wertvolle Ergänzungen, vor allem durch die Bemerkungen von R. Moses Isserles in Krakau (Remo) hinsichtlich der in Deutschland und Polen üblichen Gebräuche erhielt das neue Werk den Vorzug. Es wurde von den j. Rechtsgelehrten und Rabbinen aus allen Weltteilen als jüdisches Gesetzbuch anerkannt.

Aus der stattlichen Zahl der "letzten Entscheider" (Possekim acharonim), die sich zumeist in einer weiteren Kommentierung des Talmud und der nun vorliegenden Kodifikationen erschöpften, seien vor allem genannt Salomon Lurja (Maharschal), Sabbataj Kohen (Schach), Josua Falk hakohen (Sema), Jo-el Serkes (Bach), David b. Samuel halevi (Ture sahaw) sowie aus dem 19. Jh. die bedeutenden, besonders reichhaltigen Kommentare zu Choschen Mischpat von Arje Löb Kohen (Kezot hachoschen) und Rabbi Jakob von Lissa (Netiwot hamischpat). Bis zum heutigen Tage wurde das jüd. R. durch umfangreiche Rechtsgutachten (Scheelot uteschuwot) fortgebildet. Seit der Emanzipation ist jedoch die Fortbildung des jüd. R. in mancher Hinsicht zum Stillstand gekommen, weil nun statt des früheren Urteils nach dem R. der Tora (din tora) die Juden auch für ihre Streitigkeiten dem Landesrecht unterstellt waren.

3. Entwicklung des Rechts

Das jüd. R., wie es heute in Bibel, Talmud und Kodifikationen nebst Responsen vorliegt, hat trotz seiner quellenmäßigen Gebundenheit eine tiefgreifende Entwicklung erfahren. Gewohnheitsrechte und Sitte beeinflußten auch weiterhin das Recht, es vorbereitend und gestaltend. Die eigentlichen biblischen Quellen des R. finden sich in Exodus 21-23 und Deuteronomium 21-25, die Bestimmungen über Sklaven, Darlehen, Zins, Erbrecht, Haftungsansprüche, Schäden, Prozesse, Ehe und Ehescheidung enthalten. Von den biblischen Rechtsnormen seien weiterhin erwähnt die Bestimmungen über den Gerichtshof (Deut. 16, 18), das Jobeljahr (Lev. 25, 8ff.; Deut. 15 , lff.), das Erbrecht (Num. 27, 8; 36, 6). Von Handelsvorschriften sind nur die Bestimmungen betr. die Maße (Lev. 19, 35ff.; Deut. 25, 14ff.) zu erwähnen. Im allgemeinen ist aber der Handelsverkehr noch unentwickelt; es findet kein erheblicher geschäftlicher Verkehr und nur Barverkauf statt; erst Jer. 32, 9 erwähnt z. B. eine Kaufurkunde. Das biblische R. basiert auf der Verteilung des Landes, das sich stets auf die Söhne weiter vererbt und das der Familie nur zeitweilig, bis zum Jobeljahr, entzogen werden kann.

Veränderte wirtschaftliche und staatspolitische Verhältnisse, insbes. nach der Rückkehr aus Babylonien, beeinflussen die Rechtsentwicklung entscheidend; so wird z. B. das Jobeljahr nicht mehr eingehalten (b. Arach. 32b; Maimonides, Schemitta 10, 8). Das Sklavenrecht wird z. B. auch modifiziert (b. Arach. 29a). Der Anspruch der Ehefrau wird durch die Ketubba gesichert; die Rechte der Töchter werden erweitert (Ket. 52b). Die Erwerbsform (Kinjan) wird in grundlegender Weise fortgebildet. Eine wesentliche Ergänzung war ferner die Einführung der Gefängnisstrafe für den Fall, daß infolge Fehlens von zwei klassischen Zeugen der Angeklagte seiner Strafe nicht zugeführt werden konnte. Eine entscheidende Neuerung war ferner im Gebiete des Strafrechts die praktische Abschaffung der Todesstrafe (Makk. 1). Alle diese Ergänzungen aber werden formell stets auf die Tora selbst zurückbezogen. Viele neue Gestaltungen der Halacha werden durch die Kämpfe der Sadduzäer bewirkt.

Die Berührung mit anderen Rechten, vor allem mit dem persischen, griechischen und römischen Recht hat die Entwicklung mancher j. Rechtsbestimmungen bewirkt. Die Zusammenhänge mit griechisch-ägyptischem Recht treten schon in den sprachlichen Bezeichnungen für manche Institutionen (Hypothek s. Pfandrecht, Diatheke s. Testament, Apotropos s. Vormund) hervor. Sehr oft werden Bestimmungen des persischen Rechts erwähnt (b. B. K. 113a).

Die Methodik der Behandlung von Rechtsfragen wurde wesentlich von der prinzipiellen Einstellung beeinflußt, daß der biblische Gesetzestext nicht abgeändert werden durfte und Neuerungen oder Erweiterungen nur aufgrund von traditionell gegebenen, bisweilen sehr schwierigen Schlußfolgerungen möglich waren. Manche Anordnungen, die mit Rücksicht auf den Bestand der menschlichen Gesellschaft (mipne tikkun haolam) oder wegen des Friedens innerhalb äer j. Gemeinschaft und in der Beziehung zur Außenwelt (mipne darche schalom) erlassen werden, bereichern das Rechtsleben. Im Gebiete des Familienrechts wird die Stellung der Frau durch manche Verordnungen (vor allem von R. Gerschom) gebessert. Auch die stete fortschreitende Einsicht in die Kausalzusammenhänge der Geschehnisse des Alltags trägt zu einer Vertiefung der rechtlichen Erörterungen bei. Insbes. im Vermögensrecht besteht der Grundsatz, daß die j. Behörde berechtigt ist, in die Eigentumssphäre des einzelnen unbeschränkt einzugreifen. Die "Herrenlosigkeitserklärung" des Bet din ist gültig (hefker bet din hefker"). Damit war für alle Zeiten den j. Instanzen der Rechtspflege eine Handhabe zu allen rechtlichen Änderungen und Ergänzungen gegeben, die sich als notwendig erwiesen. So konnte das R. auch in den verschiedenen Ländern der Diaspora den mannigfachsten wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt werden, wie z. B. durch die Einführung der isska (s. Gesellschaft) zur Milderung des Zinsverbotes. Aus vielen Gemeindeverordnungen geht hervor, wie man in der Armenpflege und Steuergesetzgebung bestrebt war, die Lebensverhältnisse im Sinne der in der Tora geforderten sozialen Gerechtigkeit zu regeln.

4. Moderne Forschungen über j. Recht

Das j. Recht hat, wie aus der Skizzierung seiner Geschichte und seiner Quellen sowie aus der gesamten Entwicklung der Halacha sich ergibt, im Laufe der Jahrtausende eine bedeutsame Entfaltung erfahren; als selbständige Disziplin wurde das j. R. erst relativ spät auch von der Außenwelt einer gesonderten Betrachtung gewürdigt. Die Bearbeitung des j. R. durch Nichtj. war aber schon im Hinblick auf das umfangreiche fremdsprachige Material äußerst schwierig. Zu den ersten Forschern, die j. Rechtsinstitutionen einer eingehenden Würdigung unterzogen haben, gehören Selden, der sich mit Problemen des j. Rechts in drei Werken auseinandersetzt: "De jure naturali et gentium juxta disciplinam Ebraeorum" (1640); "Uxor hebraica" (1646); "De synhendriis et prefecturis juridicis veterum Hebraeorum" (1650), sowie die beiden Basler Gelehrten Buxtorf, die in ihren der talmudisch-rabbinischen Literatur gewidmeten Werken auch das jüd. R. in mancher Hinsicht gefördert haben. Ihnen folgen Spencer: "De legibus Hebraeorum ritualibus et eorum rationibus" (Haag 1686) und Retmajer: Jus talionis ad mentem gentilem Judaeorum et Christianorum" (Jena, 1700). - Die Kollisionen, die das jüd. R. im Gegensatz zu den geltenden bürgerlichen Rechten brachten, haben dann manche spezielle Erforschung des j. Rechts und einzelner Institutionen und auch eine Vergleichung mit dem bürgerlichen Rechte veranlaßt. So erhielt im Jahre 1778 der Oberrabbiner von Berlin, Hirschel Levin, vom königlich-preußischen Hofe den Befehl, das j. Ehe-, Erb- und Vormundschaftsrecht in einem deutschen Auszuge zu bearbeiten und dem königlichen Justizdepartement zu überreichen, um ihn "den Gerichtshöfen bei Entscheidung dahinfallender Streitfälle zwischen Juden und Juden zur Richtschnur vorzulegen". Levin übertrug diese Aufgabe Moses Mendelssohn, der sich derselben" aus Freundschaft und Hochachtung für diesen Lehrer seiner Nation unterzog, wiewohl ihm die Arbeit ungewohnt und beschwerlich sein mußte, da die Rechtsgelehrsamkeit nie eigentlich sein Studium gewesen war". Diese Arbeit wurde sodann unter dem Titel "Ritualgesetz der Juden betr. Erbschaft, Testament, Vormundschaftssachen, auch Ehesachen, insoweit sie das Mein und Dein angehen" als Entwurf "vom Verfasser der philosophischen Schriften auf Veranlassung und unter Aufsicht von Hirschel Levin" veröffentlicht (Berlin 1778). - Im 19. Jh. setzt bei den Juden selbst der Versuch ein, das j. Recht in modernem Gewande zu behandeln und j. Rechtsstudien, die früher nur in hebräischer, aramäischer und arabischer Sprache geschrieben wurden, in modernen Sprachen zu veröffentlichen. Das jüd. R. wurde von den j. Gelehrten zunächst mehr vom archäologischen oder historischen Gesichtspunkt aus erforscht; sie sprachen meistens von einem "mosaisch-talmudischen" oder "biblisch-talmudischen" Rechte, ohne das Ineinander- und Zusammenwirken beider zu beleuchten. Auch leiden manche Arbeiten bisweilen zu stark unter der Tendenz der Vergleichung. Man glaubte, die Bearbeitung eines j. Rechtsstoffes nur durch die Setzung von Parallelen motivieren zu können. So schrieb Samuel Mayer im Vorwort zu seinem überaus quellenreichen Werke über die "Rechte der Israeliten, Athener und Römer": "An der Hand der verehrten Griechen und unter dem Schutze der gewaltigen Römer mag das Recht der Israeliten eine freundlichere Aufnahme finden, als wenn dasselbe selbständig in die Welt treten würde." Nachteilig in diesen Darstellungen, die oft auf willkürliche Vergleichung von Bestimmungen des talmudischen R. mit solchen moderner Gesetzbücher eingestellt wären, wirkte vor allem, daß zu wenig auf den Geist des jüd. R. und auf den historischen Zusammenhang eingegangen wurde. Bei Bearbeitung des jüd. R. sollte man sich aber von landläufigen Kategorien der modernen Rechtswissenschaften befreien, um die unmittelbaren Eindrücke des selbständigen jüd. R. auf sich wirken zu lassen, eine Forderung, die der Basler Rechtsforscher J. Schnell bereits in einer Rektoratsrede ("Das israelitische Recht in seinen Grundzügen dargestellt", 1853) erhoben hat. Von den wichtigsten Monographien und allgemeinen Darstellungen seien genannt: Michaelis, "Mosaisches Recht" (1770-1771); Zacharias Frankel, "Der gerichtliche Beweis" (1846); Saalschütz, "Mosaisches Recht" (1846); H. B. Fassel, "Das mosaisch-rabbinische Civilrecht" (1852), "Gerichtsverfahren" (1859) und "Strafrecht" (1870); das bereits genannte Werk von S. Mayer (1862); L. Auerbach, "Das jüdische Obligationenrecht" (1870); 1. M. Rabbinowicz, "L@gislation criminelle du Talmud" (1876) und "Législation civile" (1873); D. Hoffmann, "Der oberste Gerichtshof" (1878) sowie "Der Schulchan Aruch und die Rabbiner über das Verhältnis der Juden zu Andersgläubigen" (1894); ferner kurzgefaßte und leichtverständliche Darstellungen einzelner Disziplinen des jüd. R. von M. Bloch.

In neuester Zeit hat sich dann die Ansicht durchgesetzt, daß auch das jüd. R., gleich den anderen Kulturrechten, in den Forschungsbereich der modernen Wissenschaft einzubeziehen ist. Schon Jhering ("Geist des römischen Rechts" 1, S. 8) hatte im jüd. R. die Eigenschaften des Scharfsinns und der Konsequenz mit einer noch schärferen Spitze als in der römischen Jurisprudenz zu finden geglaubt. Vor allem war es der Berliner universalistische Rechtsgelehrte Josef Kohler, der das jüd. R. als einen der wichtigsten Bausteine der von ihm begründeten vergleichenden Rechtswissenschaft erkannte und der in der von ihm herausgegebenen "Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft" (ZVR) manche Beiträge zur j. Rechtsforschung, so die knappe "Darstellung des talmudischen Rechts" (ZVR 20), veröffentlichte sowie in dieser Zeitschrift manchen j. Rechtsforschern die Publikation ihrer Arbeiten ermöglichte. In der jüngsten Gegenwart hat sich das Interesse für das j. Recht noch dadurch wesentlich verstärkt, daß es in Palästina, zunächst freilich nur auf Gebieten des Familien-, Erb-, Vormundschafts- und Stiftungsrechts als geltendes Recht zur Anwendung gelangt; auf schiedsgerichtlichem Wege (Mischpat haschalom) ist die Anwendung des j. Rechts auch auf anderen Gebieten möglich. Eine Darstellung des gesamten jüd. R. hat erstmalig A. Gulak in seinen "Jessode hamischpat haiwri" gegeben, die in 4 Bänden das gesamte j. Vermögensrecht systematisch geordnet wiedergeben, freilich unter Ausschaltung der historischen Gesichtspunkte. Im Jahre 1920 trat in Jerusalem eine Gesellschaft für jüd. R. zusammen, die (ähnlich wie die im Jahre 1917 in Moskau begründete Gesellschaft) die Förderung des dogmatischen und der historischen Erforschung des jüd. R. sich zum Ziele setzte und in Sammelwerken selbständige Arbeiten über j. Rechtsfragen publizierte. Ihr Leiter war Dr. S. Eisenstadt. Von Bedeutung ist die im Jahre 1928 veröffentlichte Programmschrift von S. B. Rabinkow (Berlin) "Individuum und Gemeinschaft im Judentum".

5. Die Geltungskraft des jüdischen Rechts

Hinsichtlich seines Geltungsbereiches unterscheidet sich das j. Recht als ein religiöses R. von modernen Rechten vor allem dadurch, daß es für die J. nicht nur territorial, sondern überall und immer verpflichtende Kraft hat. Vereinzelte Gesetze freilich sind ausschließlich an Palästina gebunden, so daß sie "außerhalb des Landes" (chuz la-arez) keine Geltung haben, oder sie sind vom Bestand des souveränen j. Staatslebens abhängig, so daß sie nach dessen Aufhebung unverbindlich wurden. Das jüd. R. ist insofern sehr weitherzig, als es für Fremde ein Sonderrecht gelten läßt und von den im j. Staat niedergelassenen Fremden nur die Einhaltung der nioachidischen Gesetze verlangt. Die Anwendung des Strafrechts hörte nach den Angaben des Talmud schon vor dem Ende des zweiten j. Staates auf. Das gesamte übrige Recht aber behielt als nationales Recht der J. seine Geltung. - Der Verlust des Staates hatte nicht den Verlust des Rechtes zur Folge, da die Gemeinschaft und der von ihr vorausgesetzte Bund mit Gott, nicht aber der Staat die Quelle des Rechts ist. Das j. Recht ist für die Juden somit noch heute ein geltendes Recht; das jüd. R. wurde demgemäß, wie die Geschichte seiner Rechtsquellen und die moderne Rechtsforschung zeigt, stets so gepflegt, als wäre es ein geltendes, mit staatlicher Macht ausgestattetes R.

In der Zeit des Mittelalters bis in die neueste Zeit ergaben sich für die innerjüdische Anerkennung des jüd. R. und die Erhaltung der eigenen Gerichtsbarkeit schon deshalb keine Schwierigkeiten, weil allgemein der Grundsatz der Stammesrechte galt, wonach das R. nicht durch den Staat gesetzt wurde, sondern den einzelnen Volksgemeinschaften überlassen blieb. Demgemäß war auch für die J. ihr eigenes Recht wie schon in den ältesten Zeiten weiterhin verbindlich. Allerdings galt auch für sie die Vorschrift, daß sie sich dem R. des Staates, in dem sie lebten, zu unterwerfen haben, falls es nicht mit den religiös-sittlichen Gesetzen des Judentums in Widerspruch steht; schon eine ausdrückliche Bestimmung des jüd. R. sieht die Anerkennung des R. dieses Staates vor, ja diese Anerkennung wird sogar schon von den Propheten (Jer. 29, 4) als religiöse Verpflichtung angesprochen. Aber diese Anerkennung des Staatsgesetzes galt in erster Linie nur für das Vermögensrecht, insbes. die Steuergesetzgebung. In diesem Sinn ist der Grundsatz "dina demalchuta dina") aufzufassen (b. Gitt. 10b), der auf das gesamte Kultus-, Familien- und Eherecht keine Anwendung findet. (Über eigenartige Begleiterscheinungen, die die Sonderstellung für die J. zur Folge hatte, vgl. z. B. die Art. Handelsrecht und Hehlerei). Eine wesentliche Änderung brachte eigentlich erst das 19. Jh., das durch die Einführung des allgemeinen Zivilrechts auch für die J., die nun als Vollbürger anerkannten Staatsangehörigen, das jüd. R. zurückdrängte. Mit diesem ausschließlichen Anspruch des modernen Staates auf die Gesetzgebung wurde das jüd. R., ähnlich wie das kanonische, in seiner praktischen Anwendung zurückgedrängt. Gleichwohl wurde das jüd. R. in j. Zentren bis zum heutigen Tage in internen j. Streitigkeiten zur Anwendung gebracht. In einer Verordnung Friedrichs des Großen aus dem Jahre 1750 wird z. B. ausdrücklich vorgesehen, daß für bestimmte Angelegenheiten nach den Bestimmungen des mosaischen Gesetzes zu entscheiden sei. Auch das österreich. allgemeine bürgerliche und das frühere russische Gesetzbuch sahen die Anwendung des jüd. R. auf dem Gebiete des Eherechts ausdrücklich vor.

6. Allgemeine Charakterisierung

Grundlegend für die Bewertung des jüd. R. ist, daß es nicht als menschliche Schöpfung, sondern als göttliche Einrichtung aufgefaßt wird. Auch die Geltung des jüd. R. und seine Erzwingbarkeit ist religiös begründet, d. h. der Glaube, nicht der staatliche Zwang sichert entscheidend die Durchführung des R.'s. Das jüd. R. beansprucht absolute Anerkennung und findet seinen Halt in Gott selbst als dem Gesetzgeber und Schützer des Rechts; dadurch wird die Verbindlichkeit des jüd. R.'s noch verschärft, indem der Zwang auch dort noch wirkt, wohin der weltliche Arm nicht mehr reicht. Auch kann, falls eine Bestrafung vor dem "menschlichen Gericht" nicht möglich ist (patur bgdine adam), noch eine Bestrafung vor dem "himmlischen Gericht" (chajaw bedine schamajim) eintreten. Diese Rückbeziehung des R. auf Gott bewirkt inhaltlich eine harmonische Verbindung von Strenge und Milde. Das R. will die Mittellinie finden zwischen strengem Anspruch und gütigem Nachgeben. Im jüd. R. findet der römischrechtliche Gedanke "fiat justitia, pereat mundus" keine Anerkennung. Hier gilt vielmehr der Grundsatz, daß das R. des Menschen wegen da ist, nicht aber der Mensch wegen des R.'s. An die bibl. Mahnung: "Beachte meine Gesetze und Rechte, die der Mensch vollziehe, um in ihnen zu leben" (Lev. 18, 5) knüpft ein Rechtslehrer die Bemerkung, daß die Anwendung des R. zum Leben führen soll, nicht aber zum Untergang (b. Sanh. 74a).

So enthalten die Bestimmungen über die Arbeiter und den Arbeitsvertrag, das Darlehen, das Pfandrecht, das Erlaßjahr (Schemitta) eine Fülle von sozialen Gedanken, welche die Tendenz zeigen, zugunsten der wirtschaftlich Schwachen einen Ausgleich bei Interessenkollisionen herbeizuführen. Der von frühester geschichtlicher Zeit an lebendige Sinn für soziale Gerechtigkeit wurde von den Propheten neu belebt. Auch späterhin hat der Talmud das R. in diesem Geiste vielfach erweitert und den Anforderungen einer neuen Zeit angepaßt. Da die Rechtskenntnis sich nicht auf einen kleinen Kreis von Kundigen beschränkte, sondern das geistige Eigentum weiter Volksschichten bildete, waren der Ausgestaltung dieses sozialen Rechts keine Schranken gesetzt. Der besondere Wert, den das J.tum auf die Pflege des R. legt, ergibt sich auch aus dem Umstande, daß das Studium des Gesetzes im allgemeinen dem J. zur religiösen Pflicht gemacht wird. Das R., einmal dem Volke gegeben, ist der Gottheit entzogen; es soll nun an die Nachkommen weitertradiert werden: "Schärfe es deinen Kindern ein und mache deine Söhne mit den Gesetzen vertraut" (Deut. 6, 1; 11, 19). Eine Intervention der Gottheit hinsichtlich der Anwendung des Rechts kennt das J.tum nicht. Durch den Menschen allein soll das R. verwirklicht werden. Das j. Prozeßrecht kennt daher auch keine übernatürlichen Beweise. So wurde einem Rechtslehrer, der sich in einem Rechtsstreit auf eine übernatürliche Stimme berufen wollte, erwidert: "Das Gesetz ist nicht im Himmel" (b. B.M. 59b). Alle Menschen sind dem Recht unterworfen; jeder Gewalt und Willkür ist damit vorgebeugt. Die einzigartige Verbindung von religiösem und weltlichem Recht hat bisweilen, z. B. im Recht der Vertretung, eine Beeinflussung des weltlichen Rechts herbeigeführt, wie sie im römischen Recht, das zwischen ius und fas scharf trennt, nicht möglich war. Diese Ouelle der gesamten j. Normenwelt und die gemeinsame Pflege des gesamten Kulturgutes bewirken, daß die Genauigkeit und Peinlichkeit des Rituals sowie die detaillierte Regelung des Kultus auch die Technik der Jurisprudenz schaffen und der Ausgestaltung des Rechtssystems starke Impulse verleihen konnten. Insbes. wurde durch diese Verbindung der soziale Gerechtigkeitssinn im Volke stets wach gehalten. Eine starke Verflochtenheit religiöser Gedankengänge mit rechtlichen Einrichtungen zeigt vor allem der Eid; er übt den stärksten Zwang auf das Individuum aus, indem er es dem Gottesurteil unterstellt.

Der Einfluß, den andere Faktoren auf das j. Recht ausgeübt haben, zeigt sich auch in der Auffassung, daß das Beharren auf Ansprüchen gemäß dem strengen Recht der Tora (din tora) nicht als das zu erstrebende Ideal betrachtet wird, sondern daß noch höher der nachgebende Verzicht steht. Im Talmud (b. B. M. 30b) wird sogar behauptet, daß die Zerstörung Jerusalems darauf zurückzuführen sei, daß man das strenge Tora-R. angewandt habe, statt Milde zu üben. Neben der Rechtslinie (schurat hadin) findet sich eine Sphäre der Billigkeit, welche "innerhalb der Rechtslinie" (lifnim mischurathadin)liegt. "Das R. soll nicht den Berg durchbohren", sondern es soll stets unter Einhaltung der von Treu und Glauben diktierten Einschränkungen angewandt werden.